Der neunte Bezirk ist der Universitätsbezirk schlechthin. Auch, wenn die Hauptuni knapp außerhalb steht. An berühmten Gebäuden mangelt es dem Alsergrund aber sowieso nicht.
So fühlt sich also Studieren in Wien an. Mit all seinen Möglichkeiten. Kunstgeschichte auf dem Uni-Campus Altes AKH. Oder beispielsweise, ebendort, Anglistik, gern auch Romanistik. Auch Publizistik gibt es – in der Währinger Straße. Oder, auch dort: Chemie. Medizin studiert man im und um das AKH. Gemeinsam haben diese Fächer, dass die zugehörigen Institute, Seminarräume, Hörsäle großteils am Alsergrund liegen. Im neunten Wiener Gemeindebezirk.
Weil das Studentenleben für den Bezirk prägend ist – hier noch mehr: Jus im Juridicum, Psychologie im Neuen Institutsgebäude und, ja, eh alles, was in der mit dem Audimax ausgestatteten Hauptuni gelehrt wird. Geografisch zählen die drei letztgenannten Adressen zwar zum ersten Bezirk. Aber wen interessieren Adressen? Gefühlt handelt es sich um einen zusammenhängenden Lebensraum. Um studentischen Lebensraum. Dieser macht den neunten Bezirk aus. Wer an sonnigen Tagen bei der Votivkirche vorbeischaut (nein, es ist nicht nur eine Großstadtlegende: Touristen sind sich ob der monumentalen Bauweise des „Doms vom Alsergrund“ oft nicht sicher, ob sie nicht schon vorm Steffl stehen) – wer also in der Gegend ist, wird sich am Grün vor dem „Dom“, im Sigmund-Freud-Park, mitunter wie im Gänsehäufel vorkommen. Nur, dass statt Badesachen Lernsachen mitgebracht werden. Apropos Touristen: Jene sind zahlreich in der Berggasse 19, im Freud-Museum, anzutreffen. Dass die berühmte Couch des Begründers der Psychoanalyse in London steht, enttäuscht aber.
Bezirkschefin mit Visionen
Wofür – wofür noch steht der Bezirk, in dem seit zwölf Jahren die rote Bezirksvorsteherin Martina Malyar (seit ihrem 15.Lebensjahr SPÖ-Mitglied!) über ihren sozialdemokratischen Visionen brütet? Als da etwa wären (Freud lässt grüßen) „mehr Psychotherapie auf Krankenschein“ und die „30-Stunden-Woche“. Freilich hat derlei nichts mit dem Bezirk zu tun. Obwohl: Die frühere Gemeinderätin, die sich bei der Bezirksvertretungswahl 2010 ein knappes Rennen mit den Grünen (SPÖ: 32,17 Prozent, Grüne: 28,51) geliefert hat, bietet auch lokal Relevantes an: „Ich will einen Gemeindebau auf dem Areal des Franz-Josefs-Bahnhofs.“ Dort, in der schmucklosen Bahnhofsgegend, hat man es nicht mehr weit zur Friedensbrücke. Deren Überquerung führt schlagartig in eine ganz andere, jenseits des Donaukanals liegende (Bezirks-)Welt. Dort drüben im 20.Bezirk (Brigittenau) merkt man viel mehr, dass Wien ein Schmelztiegel ist. Mit allen sozialen Problemen einer Großstadt.
Wieder zurück in den Neunten. Und zur Frage, was ihn denn noch ausmacht. Also: Seine Mietpreise sind hoch. Dies hängt mit der zentralen Lage des Bezirks und der guten Infrastruktur – der Alsergrund ist von U-Bahn-Stationen geradezu umzingelt – zusammen. Positiv gesehen, sind da noch zwei Elemente, die der Gegend ihre DNA geben. Es gibt zum einen diverse Ausgehmöglichkeiten. Das eingangs erwähnte Alte AKH lockt mit ausgedehnten Schanigärten Heerscharen von Besuchern. Zur Erinnerung: Voriges Jahr bei der Fußball-WM erinnerte der Campus schon an ein – wenn auch gut organisiertes – Public-Viewing-Massenquartier.
Ein Kanal fast wie im Urlaub
Dann gibt es die Summer Stage am Donaukanal. Wo sonst wird einem ein eher unspektakulärer, nicht eben wohlriechender Kanal gekonnter als lauschiges Quasiurlaubsplätzchen am Wasser verkauft? Eben! Im Ernst: Die Lokalreihe dort ist nett und viel frequentiert. Ausgehen muss nicht zwangsläufig etwas Gastronomisches meinen. Stichwort Kultur. Dafür gibt es die Volksoper. Oder, in der Porzellangasse, unter anderem das Schauspielhaus oder das Theater Center Forum. Dass dort der „Broadway von Wien“ sein soll, darf als kühner PR-Gag gelten.
Wer beides mag, also Theater plus Kulinarik, geht in eines der kleinteiligen Lokale im Servitenviertel (wo einst die Lokalpolitik um Wohnstraßen raufte) oder man versucht – so man vorher in der Volksoper war –, im bekannten Café Weimar einen Platz zu ergattern.
Dann ist da noch das dumpfe Gefühl, dass man den Neunten schon irgendwie kennt, auch wenn man sich eigentlich nicht auskennt. Gut, die US-Botschaft in der Boltzmanngasse (skurril: Als es vor langer Zeit die Donnerstagsdemos gegen Schwarz-Blau gab, zogen diese mitunter vor die US-Botschaft, so, als ob die Amerikaner wirklich an allem schuld wären), also die Botschaft – sie kennt man aus den Nachrichten. Viele andere Bauten aus der Zeitgeschichte.
Da ist die Rossauer Kaserne, jenes riesige Ziegelbollwerk, in das übrigens 1870 die ersten Truppen eingezogen sind. Heute ist sie Sitz des Verteidigungsministeriums. 1784 wurde der Narrenturm errichtet, der die pathologisch-anatomische Sammlung des Naturhistorischen Museums beherbergt. Tiefer drinnen im Bezirk liegt das Palais Liechtenstein. Prunk, mitten im Neunten. Und die in Palais-Nähe hochgezogene Strudlhofstiege. Die ist auch so ein Ding, das man zu kennen glaubt, auch wenn man noch nie dort war. Heimito von Doderer machte das Bauwerk (erschaffen von Theodor Jaeger) bekannt. „Der Meister der Stiegen“, schrieb er, „hat ein Stückchen unserer millionenfachen Wege in der Großstadt herausgegriffen und uns gezeigt, was in jedem Meter davon steckt, an Dignität und Dekor.“

Serie: Wiens Bezirke
Bis zur Wien-Wahl am 11. Oktober porträtiert die ''Presse'' nach und nach alle 23 Wiener Bezirke. Die bisherigen Porträts finden sie unter diepresse.com/bezirke
("Die Presse", Print-Ausgabe, 5. Juni 2015)