Im neuen Machtvakuum steht alles zur Disposition – vor allem der Reformweg aus der Krise.
Wien. Ihren Stolz haben die Spanier auch in der Krise nicht verloren. Vor vier Jahren, am Rande des Staatsbankrotts, verwehrten sie sich vehement gegen jeden Vergleich: „Spanien ist nicht Griechenland!“ Dass internationale Investoren der Zahlungsfähigkeit ihres Staates misstrauten, empfanden viele als Kränkung. Seitdem ist der verhasste Risikoaufschlag für Anleihen kontinuierlich gesunken, was die Medien immer wieder ausgiebig gefeiert haben. Aber verhasst ist bei vielen auch die Spar- und Reformpolitik der Regierung Rajoy, die dafür den Grundstein legte. Das hat den Linkspopulisten der Podemos-Bewegung zum Wahlerfolg verholfen. Und die Umarmung aus Athen ließ nicht auf sich warten: „Die Austerität in Spanien ist besiegt worden“, gratulierte der griechische Premier Tsipras seinen Brüdern im Geiste. „Unser Kampf wird nun gerechtfertigt. Europa ändert sich.“ Was nun wieder da ist, am Tag eins nach der Wahl, ist der Risikoaufschlag: Er steigt, während die Madrider Börse am Montagmorgen vor Schreck um drei Prozent eingebrochen ist.
Haben die Spanier die konservative Regierung für ihre Sparpolitik abgestraft? Was am Sonntag tatsächlich zu Grabe getragen wurde ist der Bipartidismo, die jahrzehntelange abwechselnde Herrschaft zweier großer Parteien – in einem verkrusteten System, das von Korruption, Vetternwirtschaft und persönlicher Bereicherung der Politiker geprägt war. Die Sozialisten wurden dafür, mit dem schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte, mindestens ebenso geprügelt wie der Partido Popular. Und mit Ciudadanos kommt eine zweite Protestbewegung ins Parlament: eine liberal-marktwirtschaftliche Partei, die sich am ehesten mit der deutschen FDP vergleichen lässt. Sie will vor allem auf dem Arbeitsmarkt die Reformen nicht bremsen, sondern beschleunigen.
Zählt man die neuen Lager zusammen, haben die wirtschaftspolitischen Reformer einen leichten Vorsprung gegenüber den linken Parteien, die den Pfad verlassen wollen. Der Weg aus der Krise wurde also, wenn auch nur knapp, bestätigt. Die Mehrheit der Spanier fordert Transparenz und neue Gesichter, aber nicht ideologische Experimente. Doch in dem konfusen Machtvakuum, das sich nach dieser historischen Wahl auftut, ist alles möglich – auch Podemos-Chef Iglesias als neuer Regierungschef. Das würde freilich zu ungleich stärkeren Erschütterungen führen. In den leichten Kursrückschlägen eingepreist ist bisher nur eine Phase der Unsicherheit und des politischen Stillstands. Nicht aber das ursprüngliche Podemos-Programm: ein Mindestlohn von 950 Euro, eine Senkung des Pensionsalters auf 60 Jahre – in einem Staat, der mit 100 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldet ist, würde das wohl den Rückfall in die Rezession bedeuten.
Schmerzhafte „innere Abwertung“
Ihr ist Spanien in den letzten Jahren zwar langsam, aber konsequent entkommen. Mit über drei Prozent Wachstum steht das frühere Sorgenkind heuer an der Spitze der größeren EU-Staaten. Die Arbeitslosigkeit ist vom Höchststand mit über 26 Prozent auf aktuell 21 Prozent gesunken. Die Leistungsbilanz ist dank kräftig steigender Exporte im Plus. Und das heißt: Spanien steht ökonomisch heute wieder auf eigenen Beinen.
Dafür haben auch Strukturreformen gesorgt, die man in Madrid beherzter in Angriff nahm als in Frankreich und Italien. Die Banken, die das Platzen der Immobilienblase massiv getroffen hatte, stehen wieder auf einem stabileren Fundament. Steuerschlupflöcher wurden geschlossen und mit dem gewonnen Spielraum Unternehmen entlastet. Vor allem aber haben Reformen auf dem Arbeitsmarkt geholfen: Die Lockerung des extrem rigiden Kündigungsschutzes erlaubte es vielen Firmen, selbst in schwachen Zeiten neue Mitarbeiter anzustellen, wenn auch meist nur befristet. Bei den Tarifverträgen gibt es nun Ausnahmen für schwächere Betriebe. Diese Flexibilität hat die Löhne gedrückt – eine schmerzhafte, aber notwendige „innere Abwertung“, die der spanischen Wirtschaft zu neuer Wettbewerbsfähigkeit und Exporterfolgen verholfen hat.
Bisher hat es der iberischen Industrie nicht geschadet, dass ihre Produkte meist nicht die technologisch raffiniertesten sind. Durch die verstärkte Ausfuhr in Schwellenländer ist sie heute besser diversifiziert als früher. Aber diese Märkte verlieren an Dynamik. Künftig muss also die Qualität steigen – auch in der Ausbildung, worauf die Sozialisten wie auch die neuen Bürgerlichen pochen. Aber die staatlichen Mittel, die dafür nötig sind, gilt es angesichts der hohen Schulden erst zu verdienen – durch neue Reformen, weiteres Wachstum und zahlbare Zinsen. Ob dieser Pfad weiter einzuhalten ist, steht nun infrage. Den Kompass dafür muss Spaniens Politik erst wieder finden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2015)