Der drastische Ölpreisverfall birgt nicht nur geopolitische Risken, er könnte uns sehr leicht auch eine globale Finanzkrise wie 2008/2009 bescheren.
Nach der klassischen Lehre sollte der extrem niedrige Ölpreis, der inflationsbereinigt zuletzt auf dem Niveau vor der ersten Ölkrise 1974 gelegen ist, die Weltwirtschaft eigentlich befeuern. Dass er es nicht tut, zeigt, dass die gängigen Erklärungsversuche für den Preissturz zu kurz greifen. Da war ja zuletzt viel davon die Rede, dass Saudiarabien mit extremem Preisdumping die US-Frackingindustrie vom Markt drängen will oder dass die USA mit forciertem Fracking den Ölpreis bewusst drücken wollen, um Putins Russland in die Bredouille zu bringen.
Natürlich spielt das alles im Hintergrund mit. Der Hauptgrund dürfte aber schlicht sein, dass die stotternde Weltwirtschaft zu wenig Nachfrage erzeugt, um die vergleichsweise hohe Produktion zu absorbieren. Europa stagniert, die US-Konjunktur ist in einem eher labilen Zustand, und die bisherige Wachstumslokomotive China steht auch ziemlich tönern da. Dass die Chinesen, wie die offiziellen Statistiken behaupten, im Vorjahr bei einer 0,6-prozentigen Steigerung des Stromverbrauchs die offiziellen sieben Prozent Wachstum tatsächlich hingelegt haben, glaubt außerhalb des Pekinger Statistikamts nämlich wirklich niemand mehr.
Woran alles momentan hängt, haben wir am Donnerstag gesehen: Äußerungen des EZB-Chefs Mario Draghi, die Euro-Notenbank könnte ihre Gelddruckerei verstärken, haben nicht nur schlagartig die Börsen befeuert, sondern auch dem geprügelten Ölpreis einen Tagesanstieg von in der Spitze mehr als fünf Prozent beschert. Es hängt zurzeit also alles an den Notenbanken. Und diese werden wohl liefern: Die EZB wird ihre Geldpolitik weiter lockern, und die US-Notenbank wird ihre Zinswende im Frühjahr wohl zumindest stoppen, wenn nicht sogar wieder umkehren.
Damit ist ein wenig Zeit gewonnen, aber die grundlegenden Probleme, die sich ja auch im Verfall aller übrigen Rohstoffpreise manifestieren, sind nicht gelöst. Und die sind gewaltig, hängen ziemlich bedrohlich über der Welt und könnten uns, wenn man nicht aufpasst, sehr bald nicht nur politische Krisen, sondern auch eine Finanz- und Bankenkrise in der Dimension der Jahre 2008/2009 bescheren.
Vordergründig sind natürlich die geopolitischen Risken des Ölpreisverfalls bedrohlich: Staaten wie Venezuela droht die Staatspleite, Russland schlittert in größere Budgetprobleme, den Scheichtümern und Königreichen am Golf drohen Unruhen, wenn sie ihre Bevölkerungen nicht mehr mit großzügigen Geschenken aus den Öleinnahmen bedenken können. Und Nordafrika steht vor einer weiteren Destabilisierung.
Diese geopolitischen Risken verstellen ein bisschen den Blick auf die Gefahren für die Finanzmärkte: Die Ölbranche ist weltweit mit 2500 Milliarden Dollar verschuldet, 500 bis 600 Milliarden Dollar entfallen angeblich allein auf die US-Frackingindustrie, in der ein Drittel der Unternehmen bereits insolvenzgefährdet sein soll. Die enormen Schuldenaufnahmen basieren auf drei- bis viermal so hohen Ölpreisen wie jetzt. Kommt es hier zum Knall, dann ist die nächste große globale Banken- und Finanzkrise programmiert.
Die Ölförderer selbst werden dieses Problem mit Produktionseinschränkungen nicht lösen können. Die Geschichte hat oft genug gezeigt, dass Kartelle wie die Opec dann, wenn man sie wirklich braucht, nicht funktionieren. Ganz einfach deshalb, weil Produzenten, die wegen der niedrigen Preise jeden Cent zur Bewältigung ihrer Ausgaben brauchen, das eigene Produktionshemd näher als das Gemeinwohl unter dem Kartellrock ist.
Bleiben als Retter die Notenbanken mit ihren Gelddruckereien. Sie können das Problem lang hinausschieben. Aber je länger sie das machen, desto mehr Blasen bilden sich, die irgendwann platzen.
Die Ölpreisflaute ist ein ernstes Zeichen dafür, dass die Weltwirtschaft ganz ordentlich aus den Fugen geraten ist. Es sieht so aus, als müssten wir uns auf reichlich ungemütliche Zeiten einstellen. Denn wie die Weltwirtschaft aus dieser Nummer halbwegs unbeschadet herauskommen soll, hat bisher noch niemand glaubwürdig skizzieren können.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2016)