Grenzen überwinden: Ein Marathon ohne Unterschenkel

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Es gibt Menschen, die mehr als inspirieren – weil ihr Schicksal unter die Haut geht, sie Grenzen sprengen, den Alltag meistern. Der Wiener Erich Artner zeigt es beim Wien-Marathon vor.

Es gibt Augenblicke im Leben, an denen man sich einfach entscheiden muss. Da gibt es kein Zurück, weil das Schicksal einfach alle Türen verschlossen hat. Da gibt es kein Zögern, Hadern, Zweifeln – aber auch kein Verzweifeln. Wer den Begriff der Aufgabe partout nicht kennen will, muss aufstehen, weitermachen, darf nicht zurückfallen. Zumindest muss man es probiert haben, sagt der Wiener Erich Artner, 42, der heute seinen zweiten Wien-Marathon bestreiten wird. Über die volle Distanz von 42,195 Kilometern, freilich. Er habe seine Ziele, „ich will der Gesellschaft doch etwas zurückgeben.“

Artner hat es probiert, mehrmals. Er hat sich der Situation gestellt, die Problematik gemeistert, die Hürden genommen, die sich so schlagartig zu Weihnachten 1989 vor ihm aufgebaut haben. Die Diagnose war fatal: Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom, eine bakterielle Blutvergiftung, im weit fortgeschrittenen Stadium, und die Ärzte bangten um sein Leben. Erich Artner überlebte, verlor aber beide Unterschenkel und stand vor der Herausforderung, sein Leben neu aufzustellen. „Es gibt nie ein wirklich geiles Alter für eine Amputation beider Beine. Schon gar nicht für einen 15-Jährigen. Es ist mehr als nur ein Flash. Plötzlich liegst du auf der Tacken, nichts ist mehr wie früher.“ Er war kein Westwien-Handballer mehr, konnte nicht mehr gehen.


Der Luxus Laufen. Ziele, Visionen, Ideen, vieles ging dem Teenager damals durch den Kopf. Mehrmals, auch wenn er es nicht zugeben wird, dürfte seien Welt zusammengebrochen sein. Klammern, denken, nach Antworten suchen, stets die Frage: Warum? Er sagt: „Sport wurde mein Leitfaden, ich suchte eine Betätigung, eine ganz andere Form der Selbstbestätigung. Heute ist es für mich der größte Luxus, wenn ich Zeit dazu finde, nachmittags eine halbe Stunde laufen zu gehen.“

Grenzen gibt es, damit Menschen sich daran halten, sich an ihnen orientieren können. Sie sind für manche aber auch da, überwunden, gebrochen oder womöglich sogar negiert zu werden. Das mitunter gängige Schrebergartendenken sei in diesem Fall unangebracht, sagt Artner, der eine Versicherungsagentur führt und eine Familie hat, ganz offen. „Ich wollte mich nie verstecken, auch wenn diese Blicke mancher Menschen auch weiterhin da sind.“ Er differenziert aber klar zwischen Voyeurismus, wenn er mit seinen Carbonfedern-Prothesen läuft und beobachtet wird, und neugierigen Blicken kleiner Kinder. Und beantwortet auch deren Fragen, warum er denn so „komische Schuhe“ anhabe.


Kraft geben, Mut machen. Artner will Zeichen setzen, Mut machen, Kraft geben, sich, seiner Familie, Freunden und all jenen, die ihm bei Vorträgen zuhören. Nichts sei unmöglich, und was nach einem abgedroschenen Werbeslogan klingt, verkörpert er eindrucksvoller, als man glauben möchte.

Wer ihn in Wien laufen sieht, muss applaudieren, ihn lautstark anfeuern – er bewegt. „Je mehr die Augen aufreißen, wenn ich durch Schönbrunn laufe, desto besser.“ Aber nicht nur allein für sich und bei seinem Streben nach Selbstbestätigung, sondern auch mit und neben anderen, bei großen Rennen mit ungeheuren Torturen.

Artner hat im Vorjahr beim Klagenfurter Ironman (12:12:03 Stunden) mitgemacht, er wird den Triathlon heuer wiederholen. In Wien läuft er zum zweiten Mal, es sei sein nunmehr vierter Marathon, zählt er stolz auf. Das Extreme ist also nicht nur eine Sucht oder ein Mascherl, mit dem sich Sportler zu vermarkten bemühen, sondern für manche auch eine Befreiung. Wenn Artner läuft, Rad fährt oder schwimmt, ist er einer von vielen. Er kann trotz Behinderung alles erreichen. Alles . . .

Freilich, auch er habe oft den Wunsch, einfach aufzuhören. Er spüre jeden Kieselstein unter der Prothese, „gottlob führt die Strecke in Wien über kein Kopfsteinpflaster.“ Auch verlange sein innerer Schweinehund, überzeugt zu werden. Täglich, wenn Job und Familie rufen, er laufen geht, trainiert, schwitzt oder einfach nur schlecht gelaunt ist. Oder seine Prothesen anlegen muss, um Auto zu fahren, um einzukaufen. Er geht viermal in der Woche laufen, lenkt sich ab, bestimmt neue Herausforderungen. Es könne doch nicht immer nur bergauf gehen, auch Rückschläge müsse man verarbeiten, wegstecken.


Jeden Schritt genießen. Ein großes Anliegen ist es ihm, anderen zu helfen, seinen Beitrag zu leisten. Im Vorjahr spendete Estée Lauder für jeden seiner Kilometer Geld für die Krebsstiftung Pink Ribbon, heuer ist Erich Artner für die Jane-Goodall-Stiftung im Einsatz. „Ich laufe den ersten Teil des Staffelmarathons, mit zwei Chips freilich, und dann den ganzen Marathon“, sagt er stolz. Die Engländerin habe der Hütteldorfer über eine Freundin kennengelernt, er finde das Thema spannend. „In Afrika helfen, den Menschen, den Schimpansen – es taugt mir, ein paar Spenden zusammenbekommen.“ Wer weiß, vielleicht motiviert er andere, mitzumachen. Hilfe ist oft nur einen Schritt entfernt, in diesem Fall über 42,195 Kilometer.

Die letzten Meter des Marathons werde er „richtig genießen“. Den Rummel entlang der Ringstraße, die Menschen, den Lärm der Begleitfahrzeuge, die Zurufe. Es sei eine „emotionale Sache“, hier vermischen sich letztendlich Mitleid und Bewunderung. Dann hat es Erich Artner wieder bewiesen: Es gibt keine Grenzen.

WIEN & MARATHON

9 UhrErich Artner
ist einer von über 42.000 Startern, die es von der Wagramer Straße über 42,195 Kilometer bis ins Ziel vor dem Burgtheater schaffen wollen.

3,34Stunden
benötigte der Prothesenläufer 2015.

Bei den Herren gewann der Äthiopier Sisay Lemma in 2:07:31 Stunden, bei den Damen die Schweizerin Maja Neuenschwander (2:30:09).

Privat

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2016)

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