Finnlands innovative Pragmatiker

Wälder sind der größte Energielieferant Finnlands
Wälder sind der größte Energielieferant FinnlandsMarkus Mauthe / laif / picturede
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Das Land wurde aus Rohstoffmangel zu einem Vorreiter bei erneuerbaren Energien. Kohle und Öl will man so rasch wie möglich den Rücken kehren, nicht der vertrauten Atomenergie.

Fichten, Kiefern und Birken dominieren das weitläufige, dünn besiedelte finnische Land. Mehr als zwei Drittel der Staatsfläche sind von Wäldern bedeckt. Dort, in den Wäldern, findet sich mit der Forstindustrie auch der drittstärkste Produktionszweig. Sie ist gleichzeitig jedoch auch der energieintensivste. Fast ein Viertel des finnischen Strombedarfs verschlingt allein die holzverarbeitende Industrie. Die ebenfalls starken Metall- und Chemiesektoren tragen ein Übriges dazu bei, dass die Finnen mehr Energie benötigen als selbst im nordeuropäischen Durchschnitt angesichts der harten Winter üblich.

So ist die Volkswirtschaft gezwungen, jährlich rund 20 Prozent ihres benötigten Stroms zu importieren. 2014 summierte sich das Minus bei fossilen Brennstoffen und Strom im Außenhandel laut der deutschen Außenhandelsgesellschaft auf 5,9 Mrd. Euro. Beachtet man die übrigen geografischen Handicaps – die langen Winter, der völlige Mangel an fossilen Brennstoffen wie Kohle und Öl, mit denen etwa die Nachbarn Russland und Norwegen aufwarten können – wird rasch klar: Das Land wurde nicht zuletzt aus der Not heraus zu einem wahren Musterschüler, wenn es um kreative energiesparende Technologien geht. Doppelverglasungen sind seit Jahrzehnten fixer Bestandteil der Häuser. Mittlerweile geht man bereits zu Dreifachverglasungen über. Vor rund drei Jahren wurde die flächendeckende Implementierung von intelligenten Stromzählern in allen finnischen Haushalten abgeschlossen. Der Nukleus der Energieeffizienz ist Finnlands Hauptstadt Helsinki. Sie entwickelt sich seit einigen Jahren zur Spielwiese für nachhaltige Projekte: Ganze Stadtteile sind in Smart-Grid-Systeme, intelligente Stromnetze, die die Energie nach Bedarf hin- und herschleusen, eingebunden. 46 energieeffiziente Stadtentwicklungsprojekte – vom Verkehr über Abfallentsorgung, Wasseraufbereitung, Beleuchtung bis hin zu Wohnlösungen – werden dort parallel getestet.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass Finnland bereits im Vorjahr spielend den EU-Auftrag erfüllt hat, seinen Anteil des mit erneuerbaren Energien erzeugten Stroms bis 2020 über die Schwelle von 38 Prozent zu heben. Heute hält man bei etwas weniger als 40 Prozent. Denn der Wald und die ihm innewohnende Industrie nehmen nicht nur, sie geben auch. Ein Viertel des nationalen Energiekonsums kann mit Holzbrennstoffen abgedeckt werden.

100% erneuerbar – ein Wunschszenario?

Finnlands vergangenen Frühling eingesetzte Regierung plant schon den nächsten Coup. Zurzeit forschen Arbeitsgruppen an Konzepten, wie man die gesamte Energieversorgung bis 2050 auf erneuerbare Ressourcen, allen voran die durch die omnipräsenten Wälder dominierende Biomasse, umstellen könnte. Das dürfte laut finnischen Energieexperten aber auf längere Sicht mehr Gedankenspiel als realistisches Umstiegsszenario bleiben. Denn trotz allen Lobes für die Vorreiterrolle, die man bei intelligenten Stromnetzen und seit Neuestem auch bei Solar- und Windkraft einnimmt, stützt sich die Energiebranche stark auf Atomstrom.

Laut dem finnischen Statistikamt stammen aktuell 33,7 Prozent des produzierten Stroms aus Kernkraft. „Wir werden nicht versuchen, die Nuklearenergie ganz auszulöschen, bevor die Reaktoren nicht ihr normales Lebensende erreichen“, ist Jukka Leskelä, Direktor für den Bereich der Stromproduktion im Verband der finnischen Energieindustrie, überzeugt. Ihre Lebenszeit hat sich mit Zustimmung des Parlaments erst kürzlich doppelt verlängert: 2018 und Mitte der 2020er-Jahre sollen zwei neue Reaktoren an das Netz gehen. Leskelä begründet die positive Einstellung der Finnen zum Atomstrom mit den ausschließlich guten Erfahrungen, die man bisher mit der Energieform gemacht habe. Und nicht zuletzt sei auch der verantwortungsvolle Umgang mit den ausrangierten Brennstäben ein Argument: 2023 wird an der Südwestküste Finnlands die weltweit erste tief unterirdisch gelegene Langzeit-Endlagerstätte für Nuklearmüll in Betrieb gehen. So lässt sich der Nachhaltigkeitsgedanke mit dem Unabhängigkeitswunsch für viele Einwohner vereinbaren.

Realistischer als der angedachte hundertprozentige Umstieg auf Erneuerbare ist das von der finnischen Regierung gesteckte Ziel, 2030 zumindest 50 Prozent der Energie aus erneuerbaren Rohstoffen zu gewinnen. Und man will – und das stößt bei den Finnen bereits auf mehr Gegenliebe als der Ausstieg aus dem Atomstrom – sich ganz von fossilen Rohstoffen trennen. 2030 soll der bei knapp 24 Prozent liegende Anteil des Erdöls am Energiekonsum halbiert und Kohle (zurzeit acht Prozent) gestrichen werden.

Für den hohen Norden verhältnismäßig bizarr anmutende Energieformen sollen stattdessen den beinahe jährlich steigenden Strombedarf abdecken. Der aktuelle Hoffnungsträger ist der boomende Solarenergiesektor. „Ja, es stimmt, die Leute fahren für ihren Sommerurlaub nicht nach Finnland“, sagt Jukka Leskelä in Anspielung auf die langen Winter. Im Norden des Landes lässt sich die Sonne rund 51 Tage im Jahr nicht blicken. Jussi Vanhanen, der Chef des Netzwerks Cleantech Finland, das Finnlands grünen Start-ups hilft, mit innovativen Energiekonzepten den internationalen Markt zu erschließen (siehe Geschichte unten), wendet pragmatisch ein: „Im Sommer scheint die Sonne dafür umso länger.“ Er schätzt, dass man dank der langen weißen Sommernächte auf ähnliche Leistungsspitzen kommen kann, wie etwa in Österreich. Trotz der derzeitigen Euphorie betonen beide Experten, dass Finnland bei der Technologie aber ganz am Anfang steht. Bei den jährlichen Wachstumsraten von mehreren hundert Prozent müsse man in Betracht ziehen, dass Solar bislang weniger als ein Prozent des Energiebedarfs abdeckt.

Vanhanen sieht die nächste Herausforderung in der Speicherung der einmal gewonnenen Sonnenenergie. Die Batterien gebe es zwar bereits. Nur sei es noch nicht wirtschaftlich rentabel, Solarstrom für Tagesspitzenzeiten oder gar bis zum Winter aufzuheben. Die Regierung schießt privaten Haushalten zudem anders als in der Mehrzahl der EU-Staaten wie etwa Österreich kein Geld zu. Das bekommt nur die Industrie, wenn sie in Sonnenenergie investiert. So spielt sich Finnlands Solartrend laut Vanhanen zurzeit primär auf den Dächern der Firmen und öffentlichen Gebäude ab.

Auf Wind bauen

Der zweite ebenfalls boomende Sektor – auch von dem minimalen Niveau von 1,5 Prozent ausgehend – ist die Windkraft. Das Geschäft mit dem Wind soll bis 2025 vier Mrd. Euro umsetzen. Schon 2020 sollen hier 4200 Arbeitnehmer beschäftigt werden. Nicht wenig, wenn man bedenkt, dass die gesamte Energiebranche in Finnland einen Umsatz von 13,6 Mrd. erwirtschaftet und rund 15.000 Personen beschäftigt. Es sei gut, sagt Vanhanen, dass man mit der Einführung der Windkraft ein Weilchen länger gewartet habe als etwa die Dänen oder die Deutschen. Dadurch hätte sich die Technologie so weit verfeinern können, dass die Anlagen der arktischen Witterung standhalten und sich die Rotorblätter auch oberhalb der finnischen Baumwipfel drehen können.

Im Endeffekt sind ebendiese hohen Kiefern, Birken und Fichten noch immer die alles bestimmende Energieressource Finnlands: Sie liefern 80 Prozent der erneuerbaren Energie. Die Produktionsmengen steigen nach wie vor – wenn auch nicht mit derselben Rasanz wie Wind und Sonne. Der Wald nimmt, der Wald gibt. Und die Finnen geben acht, dass das so bleibt: Mittels intensiver Aufforstungsprogramme nimmt die Waldfläche trotz der starken Holzindustrie zu statt ab. Man wolle, so Vanhanen, ja schließlich nicht seine „grüne Kohle“ aufbrauchen. Leskelä vom Verband der finnischen Energieindustrie zitiert Umweltminister Kimmo Tiilikainen. Dieser sagte vor Kurzem: „Unsere Solarenergie ist die Biomasse.“ Man hat nicht viele eigene Energieressourcen in Finnland. Aber auf die wenigen ist man stolz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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