Zachmann: "Wir haben viel zu viele falsche Kraftwerke in der EU"

Georg Zachmann von der Denkfabrik Bruegel
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Die EU-Länder haben die Energiepolitik wieder an sich gerissen, kritisiert der Ökonom Georg Zachmann. Europa spiele keine Rolle mehr. Für die Folgen müssten alle Bürger teuer bezahlen.

Die Presse: Wozu braucht Europa die Energieunion? Zumindest Strom hat die EU ja genug.

Georg Zachmann: In den vergangenen Jahren haben die Mitgliedstaaten die Energiepolitik wieder stark an sich gezogen. Es gab sehr wenig europäische Energiepolitik. Ein typisches Beispiel ist der Stromsektor: Ursprünglich wollte man hier einen europäischen Markt schaffen. Die Mitgliedsländer waren mit dem Ergebnis unzufrieden, weil nicht die Kraftwerke gebaut wurden, die sie wollten. Also haben sie Umwege wie Kapazitätsmechanismen für Gaskraftwerke, Staatsgarantien für Atomkraftwerke oder die Ökostromförderung gesucht, um die jeweils gewünschte Technologie zu pushen. Ähnliches passiert im Klimaschutz.

Wo hat dieser nationale Eigensinn zu Problemen geführt?

In ganz Europa wurden sehr, sehr große Überkapazitäten aufgebaut. Strompreis und CO2-Preis sind in den Keller gerutscht und spielen keine Rolle mehr für die Investitionsentscheidungen von Unternehmen. Wir haben heute die falschen Kraftwerke, an den falschen Orten – und viel zu viele. Es gibt keinerlei Mechanismus auf europäischer Ebene, um den Rückbau des Kraftwerkparks auf eine effiziente Größe zu koordinieren. Dazu kommt, dass wir etwa in Deutschland, Frankreich und Großbritannien sehr starke Energieminister haben, die den Sektor in ihrem Einflussbereich wissen und nicht dem Markt überlassen wollen. Europa spielt da keine große Rolle mehr.

Wäre das notwendig?

Ja, vor allem, wenn man auch die äußeren Entwicklungen im Auge behält: den Kampf gegen den Klimawandel, die Gefahr, außenpolitisch in die Ecke gedrängt zu werden, wenn Russland droht, die Gaslieferungen einzustellen. Das würde schon eine europäische Antwort verlangen. Es hat einfach keinen Sinn, darauf national zu reagieren. Der Klimawandel etwa lässt sich national sicher nicht stoppen.

Die Kommission hat ihre Vorstellungen zur Energieunion vorgelegt. Wie wahrscheinlich ist, dass sie Realität werden?

Das Hauptproblem ist struktureller Natur: Staaten müssen sich entscheiden, ob sie Kompromisse in der Energie- und Klimapolitik eingehen wollen, die auch mit gewissen Souveränitätsverlusten verbunden sind. Ich bin überzeugt, dass es Kompromisse gibt, die alle Länder gleichzeitig besserstellen. Polen könnte auf die Unterstützung der klimaschädlichen Kohle verzichten, dafür aber beim Thema Gasversorgungssicherheit mehr Hilfe aus Deutschland erhalten. Frankreich könnte einen interessanten CO2-Preis sehen, der es seine Kernkraftwerke besser finanzieren lässt. Und Österreich könnte einen funktionierenden europäischen Strommarkt erhalten, in dem es mit seinen flexiblen Pumpspeichern Geld verdienen kann. Da hätte jeder etwas davon.

Was müssten diese Länder im Gegenzug aufgeben?

Im Vergleich zu dem, was die Länder durch die Zusammenarbeit gewinnen, sind die Dinge, die sie dafür aufgeben müssten, zweitrangig. Allerdings spielen diese in den nationalen Debatten eine große Rolle, weil die Interessen der jeweiligen Industrien so stark sind – sie beeinflussen auch die jeweiligen Energieminister extrem. Die Energieunion kann nur funktionieren, wenn sie auf Ebene der Staats- und Regierungschefs ausgehandelt wird. Noch gibt es mit Brexit und Migration aber drängendere Themen. Auf struktureller Ebene ist daher nur wenig passiert. Wir stecken immer noch im Prozess der Renationalisierung. Wir erarbeiten zwar tausendseitige EU-Netzwerkcodes, harmonisieren die kleinsten Details, an die großen Fragen wagen wir uns aber nicht heran.

Was wären diese großen Fragen, um die sich die EU-Staaten kümmern sollten?

Hier ist das Dokument zur Energieunion der Kommission sehr brauchbar. Es geht um die Förderung von Forschung und Entwicklung, Klimaschutz, Energieeffizienz, den gemeinsamen Binnenmarkt und natürlich die Versorgungssicherheit.

Sehen Sie eine Alternative zu Russland?

Das billigste Gas, das wir bekommen können, ist aus Russland. Daher ist es schwierig, komplett darauf zu verzichten. Wir müssen weiter russisches Gas kaufen. Aber um unsere außenpolitische Unabhängigkeit zu wahren, müssen wir uns ausreichend Alternativen schaffen. Wir schlagen hier eine marktwirtschaftliche Lösung vor: Jeder, der liefert, muss auch vorweisen, dass er ausreichend Reserven hat. Das würde dazu führen, dass man billiges Gas aus Russland beziehen kann – solange es opportun ist –, aber gleichzeitig nicht mehr erpressbar ist. Europas Weg ist immer, Märkte zu finden, von denen es hofft, dass sie effizientere Entscheidungen bringen als die Politik.

Aber funktioniert das auch? Europas CO2-Markt scheitert ja gerade grandios.

Die Frage ist: Was ist die Alternative? Eine politische Koordinierung schaffen wir nicht. Dafür sind die nationalen Interessen zu stark. Märkte haben hier schon viel Sinn.

Warum sollten die nationalen Regierungen ihre eigene Entmachtung forcieren?

Natürlich wollen sich die Politiker nicht entmachten lassen. Sie wollen auch weiterhin rote Bänder durchschneiden und Subventionen verteilen. Die Regierungen müssten Teile ihrer Einflussmöglichkeiten wieder abgeben, die sie sich in den vergangenen Jahren zurückerobert haben. Denn obwohl die EU seit Langem am Ziel des gemeinsamen Binnenmarkts festhält, haben es die Länder geschafft, sich wieder rein nationale Märkte aufzubauen.

Seit dem Jahr 2014 sollte der gemeinsame Markt für Energie stehen. Davon sind wir ein Stück entfernt. Warum sollte es diesmal klappen?

Das Ziel hatten wir damals schon leicht belächelt – und leider hatten wir recht. Der Fokus war damals vollkommen falsch. Die EU-Kommission hat nur einen Teil des Markts im Blick gehabt: Sie hat sich darum gekümmert, dass das richtige Kraftwerk in Europa zum richtigen Zeitpunkt eingeschaltet wird, egal, auf welcher Seite der Grenze es steht. Das haben wir erreicht. Wenn der Wind in Deutschland stärker weht, wird in Holland das Gaskraftwerk abgedreht. Das funktioniert gut, ist aber maximal der halbe Binnenmarkt. Entscheidend ist die Frage: Wie viel investiere ich wo? Und hier hat eben jedes Land seine eigene nationale Lösung gefunden, um die erwünschten Kraftwerke zu forcieren. Das hat dazu geführt, dass wir ein Kraftwerksportfolio haben, das aufgebläht und nicht effizient ist. Wenn nun ein Politiker kommt und sagt, mein Land wird so viel Kapazität aus dem Markt nehmen, ist das politischer Selbstmord. Denn hier sind die Umverteilungseffekte gigantisch. Darum sollten die Regierungen gemeinsam mit der EU eine Marktlösung finden, damit sie nachher ihre Hände in Unschuld waschen können.

ZUR PERSON

Georg Zachmann arbeitet seit 2009 als Energie- und Klimaspezialist bei der Brüsseler Denkschmiede Bruegel. Bisherige Stationen des promovierten Technikers und Ökonomen waren das deutsche Finanzministerium sowie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

Neben seinen Analysen für Bruegel ist der gebürtige Deutsche auch Mitglied der deutschen Beratergruppe in der Ukraine und des German Economic Team in Weißrussland und der Republik Moldau.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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