Deutschland

Merkel, die Vorsichtige: "Da ist aber eine große Gefahr"

Angela Merkel bei ihrer Regierungserklärung im deutschen Bundestag in Berlin.
Angela Merkel bei ihrer Regierungserklärung im deutschen Bundestag in Berlin.REUTERS
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Deutschland steht bei wesentlichen Pandemie-Kennwerten besser da als Österreich, bleibt aber beim harten Lockdown. Die Coronavirus-Mutationen könnten schon bald die Oberhand gewinnen, warnt Kanzlerin Merkel. Lockerungen? Erst bei einer Inzidenz von unter 35.

Die Situation sei ja an sich gar nicht so schlecht: Die (Inzidenz-)Zahlen seien gut, die Impfungen würden anlaufen. Bis zum Ende des Sommers sollte jeder, der das möchte, eine Impfung gegen das Coronavirus bekommen können. Doch dann kommt das "Aber" in der Rede der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Da ist aber eine große Gefahr", sagte sie am Donnerstagvormittag im Bundestag in Berlin, als sie den Abgeordneten die neuesten Maßnahmen erklärte, die sie gestern gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer ausverhandelt hat. Und diese "große Gefahr" seien die Mutationen, die die Infektionslage rasch in Richtung exponentiellen Wachstum bringen könnten.

5,7 Prozent der Infektionen seien in der ersten Jänner-Woche bereits mutierte Corona-Viren gewesen, am häufigsten darunter die englische Variante. Es sei nur eine Frage der Zeit bis Mutationen die Oberhand gewinnen und "das Ursprungsvirus" verdrängen. Und darauf müsse man sich einstellen - trotz derzeit sinkender Inzidenzen, so Merkel. Experten sagten voraus, dass die mutierten Viren schon Mitte März dominierend sein könnten. Deshalb sei die Zeitspanne bis dahin zum Senken der Inzidenzen existenziell.

Die deutsche Kanzlerin sprach aber auch über Versäumnisse im Herbst, aus denen ausreichend Lehren gezogen werden sollen. "Wir waren nicht vorsichtig genug und nicht schnell genug." Es sei jedoch eine Trendumkehr gelungen.

Und dass Merkel - auch im Vergleich zu ihrem südlichen Nachbarn Österreich - lieber die vorsichtigere Schiene in der Pandemie fährt, zeigt auch das neueste Maßnahmenpaket. Deutschland verlängert den Corona-Lockdown bis zum 7. März. Darauf haben sich Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der Länder am Mittwoch nach mehrstündigen Beratungen verständigt. Nur Friseure sollen schon ab 1. März unter strengen Hygienebedingungen öffnen dürfen. Mehrere Länder kündigten zudem an, in den Schulen den Präsenzunterricht ab 22. Februar wieder einzuführen.

Doch selbst im Schulbereich lässt Merkel durchklingen, dass ihr das zu schnell geht. Die Auswirkungen der wochenlangen Schließungen seien spürbar und die Anspannung der Eltern sei groß, und "trotzdem hätte ich mir an dieser Stelle gewünscht, dass wir auch hier entlang der Inzidenz entscheiden, aber ich habe auch akzeptiert, dass es eine eigenständige Kultushoheit der Länder gibt, vielleicht das innerste Prinzip der Länder", so die Kanzlerin bei ihrer Rede im Bundestag.

Zielwert: Sieben-Tage-Inzidenz von 35

Sollte die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen bis zum 7. März stabil unter 35 gesunken sein, sollen die Beschränkungen von den Ländern danach schrittweise gelockert werden. Dann sollten der Einzelhandel, Museen und Galerien sowie Betriebe mit körpernahen Dienstleistungen unter konkreten Auflagen wieder aufmachen können, heißt es in dem Beschluss von Bund und Ländern. Das Kanzleramt hätte die ursprünglich bis zum kommenden Sonntag geltenden Einschränkungen für Handel, Gastronomie, Amateursport und Kultur gerne sogar bis zum 14. März beibehalten. Das geht aus einem früheren Entwurf hervor, der vor der Sitzung kursierte.

Die Ausnahme für die Öffnung der Friseure wurde begründet mit der "Bedeutung von Friseuren für die Körperhygiene", insbesondere Ältere seien darauf angewiesen.Momentan liegt die Zahl pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen in ganz Deutschland im Schnitt bei 68 bestätigten Neuinfektionen täglich. Der Wert von 35 sei durchaus in Sichtweite, betonte Söder: "Es ist kein Vertagen auf den Sankt-Nimmerleinstag."

Kritik der Opposition

Die Opposition reagierte mit scharfer Kritik auf die Beschlüsse. FDP-Fraktionschef Christian Lindner sagte, auch nach einem Jahr sei "Wir bleiben Zuhause" der wesentliche Grundsatz. "Das ist bestenfalls einfallslos. Mit Sicherheit, Frau Merkel, ist das nicht alternativlos", sagte Lindner. Die FDP habe kein Verständnis dafür, dass vorhandene Technologien nicht genutzt würden, beispielsweise im großen Stil Schnelltests einzusetzen oder die Corona-Warnapp zu erweitern.

Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel warf der Regierung Rechtsbruch vor: "Was die Bundesregierung hier betreibt, ist verfassungswidrig", sagte sie. Die Regierung betreibe eine "falsche Politik, die nur Verbot und Zwang zu kennen scheint". Weidel monierte: "Drei Monate Wellenbrecher-Lockdown, und Sie wollen noch mal einen Monat dranhängen. Die Kollateralschäden Ihrer Methode von Einsperren und Dichtmachen wachsen ins Unermessliche."

Merkel betonte dagegen: "Die allermeisten der beschlossenen Maßnahmen müssen konsequent beibehalten werden." Sie rief angesichts der auftretenden Virusmutationen zu größter Vorsicht auf: "Noch ist nicht alles auserforscht, aber wir tun gut daran, an den Annahmen vieler Expertinnen und Experten aus dem In- und Ausland nicht zu zweifeln, wenn sie uns erklären, alle drei Mutationen sind deutlich aggressiver, also ansteckender, übertragen sich leichter als das Ursprungsvirus."

"Blanker Horror" für einzelne Wirtschaftszweige

Die Reaktionen von Wirtschaftsvertretern auf die neuen Maßnahmen fielen erwartungsgemäß kritisch aus. Der Handwerksverband warnte, dass der verlängerte Lockdown viele Unternehmen "in die Knie zwingen" werde. Der Deutsche Reiseverband (DRV) beklagte, dass die Branche de facto schon ein Jahr "ohne Perspektive" im Lockdown sei. Viele Unternehmen stünden "kurz vor der Insolvenz".

Der "blanke Horror" ist die Lockdown-Verlängerung auch für den Textilhandel. "Per Ende Februar dürften sich die Verluste des Winter-Lockdowns in den Textil-, Schuh- und Lederwarengeschäften damit auf rund 15 Mrd. Euro aufsummiert haben", teilte der Hauptgeschäftsführer des BTE Handelsverbands Textil, Rolf Pangels, in einer gemeinsamen Pressemitteilung mit dem Handelsverband Schuhe (BDSE) und Lederwaren (BLE) am Mittwochabend mit.

Länder sollen Schulöffnung selbst entscheiden

Wann es welche Öffnungsschritte in Schulen und Kindertagesstätten geben soll, wird nicht bundeseinheitlich geregelt. Merkel sagte, sie hätte mit diesen Öffnungen gerne erst ab dem 1. März begonnen. Die Länder, die für Bildung zuständig sind, hätten dies aber anders beurteilt.

Etliche Bundesländer wollen die wegen der Corona-Pandemie geschlossenen Schulen bereits im Februar schrittweise öffnen. Berlin plane diesen Schritt für den 22. Februar, sagte der Regierende Bürgermeister Michael Müller. Auch andere Bundesländer orientierten sich an diesem Termin, fügte der aktuelle Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) hinzu.

In dem Beschluss wird Gesundheitsminister Jens Spahn aufgefordert, zu prüfen, ob bei der nächsten Fortschreibung der Coronavirus-Impfverordnung Beschäftigte in der Kindertagesbetreuung sowie Lehrkräfte an Grundschulen (Volksschulen) frühzeitiger als bisher vorgesehen geimpft werden könnten.

Und was sagt die deutsche Bevölkerung zu den Plänen von Merkels Regierung? Zwei Drittel der Bürger würden einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge eine Verlängerung bis Ende Februar befürworten. Etwa ein Viertel (26 Prozent) sprach sich gegen eine Verlängerung aus. Die Bevölkerung dürfte vorerst also noch mitziehen. Denn es genügt ein Blick in die Nachbarländer Tschechien, Frankreich, Belgien, Niederlande und Österreich, um zu erkennen, wie gut Deutschland bisher durch die Coronavirus-Pandemie gekommen ist.

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(klepa/APA/dpa/Reuters)

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