Ungarn: „Ein Wiederaufbau macht keinen Sinn mehr“

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Ungarn bdquoEin Wiederaufbau macht(c) AP (Darko Bandic)
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Giftschlammkatastrophe. Ungarns Premier Orbán befürchtet, dass in weiten Teilen der Katastrophenregion niemand mehr leben kann. Erste Ausläufer des Giftschlammes erreichten die Donau.

[BUDAPEST/KOLONTÁR]Ausläufer jener Flut aus giftigem Rotschlamm aus einem Aluminiumwerk, der sich am Montag aus einem geborstenen Depot am Rand der Stadt Ajka nördlich des Plattensees in die Landschaft ergossen hat, haben am Freitag die Donau erreicht. Der Schlamm hatte seinen Weg über die Flüsse Marcal und Raab genommen und strömte gegen Mittag in die Moson-Donau, einen schmalen, stark mäandernden südlichen Nebenarm der Donau.

Die Moson-Donau zweigt etwa 25 Kilometer flussabwärts von Bratislava ab und mündet ca. 55 km weiter nahe Györ wieder in die Donau. Während der stark basische Schlamm (er besteht großteils aus Natronlauge sowie Metallen, darunter giftigen Schwermetallen) das Leben im Fluss Marcal zerstört habe, sei er in der Moson-Donau stark verdünnt, sagte Tibor Dobson, Sprecher des Katastrophenschutzes. Demnach habe man einen pH-Wert von neun gemessen. Das sei zwar noch recht basisch, aber in der Donau selbst dürfte er rasch auf einen neutralen Wert um pH-7 sinken (s. Lexikon).

Alarm in Serbien und Rumänien

Serbien und Rumänien wollen die Wasserqualität nun intensiv überwachen. Aus Bukarest heißt es, dass Donauwasser mit Spuren des Schlammes rumänisches Territorium möglicherweise schon am Samstagabend erreichen könnte. Bei einer Belastung der Donau sei vor allem die Stadt Drobeta Turnu Severin betroffen, die ihr Trinkwasser aus dem Fluss bezieht. Notfalls müsse die Trinkwasserversorgung der 100.000 Einwohner vorübergehend eingestellt werden.

In Wien sagte Umweltminister Niki Berlakovich, dass man helfen wolle, dazu habe man eine Sondergruppe eingerichtet. Ungarn bat noch nicht um Hilfe. Für Österreich bestehe durch das Unglück in Westungarn (das Hauptgebiet bei Ajka liegt etwa 150 Kilometer Luftlinie südöstlich von Wien) wohl keine Gefahr – auch, wenn nach dem Trocknen des Schlamms der Wind roten Staub davontrage. Die Luftmesskontrollen würden in grenznahen Messstellen verstärkt. „Greenpeace“ stellt heute, Freitag, in Wien Ergebnisse von Tests vor, bei denen die Zusammensetzung des Schlamms analysiert wurde.

Empörung über Aluminium-Bosse

In Ungarn herrscht Empörung über die Aluminiumfirma „Magyar Alumínium“ (MAL), den Eigentümer des Rotschlammbeckens. Neben Aussagen der MAL-Leitung, wonach der Schlamm nicht so giftig sei, wird die Knausrigkeit der Bosse bei der Entschädigung kritisiert: Es wurden pro Familie vorerst ca. 300 Euro Soforthilfe versprochen. Für die Opfer, von denen viele ihre Häuser abreißen müssen, ist das nicht einmal ein Tropfen auf dem heißen Stein, sondern eine Frechheit: Immerhin gehören Mitglieder der Chefetage von MAL zu den 100 reichsten Personen des Landes (siehe Seite 21).

Ungarns Premier Viktor Orbán betonte, dass hinter allem wohl „menschliches Versagen“ stehe; tatsächlich steht im Raum, dass die Deponie stark überfüllt gewesen sein dürfte. Orbán sagte, man werde die Verantwortlichkeit der Firma streng untersuchen.

„Keine Worte für Verantwortungslosigkeit“

Im am stärksten getroffenen Ort Kolontár, rund 1200 Meter vom Schlammbecken entfernt, sagte er, ein Wiederaufbau mache keinen Sinn, denn niemand könne hier mehr leben. „Wäre die Katastrophe in der Nacht passiert, wären die Menschen in den Unglücksorten alle tot. Das ist eine Verantwortungslosigkeit, für die ich keine Worte finde.“

Erratum: In der ersten bzw. der Westösterreich-Ausgabe der „Presse“ vom 7. 10. hieß es, der Schlamm habe Fauna und Flora auf 40 Quadratmetern zerstört. Gemeint waren natürlich Quadratkilometer.

Lexikon

Der pH-Wert drückt aus, wie sauer oder basisch eine Flüssigkeit bzw. wässrige Lösung ist. „P“ steht für „potentia“ (Kraft), „H“ für „Hydrogenium“ (Wasserstoff), weil der Wert ausdrückt, wie konzentriert bzw. aktiv Wasserstoffionen in der Substanz sind. Eine neutrale Flüssigkeit, etwa ganz reines Wasser, hat einen pH-Wert von sieben. Mineral-, Meer- und Leitungswasser liegen zwischen etwa pH-6 und pH-8. Bier hat etwa 4,5, Essig 2,5, Salzsäure ca. 1. Basen sind u. a. Seife (pH-9–10), Bleichmittel (12,5) und Natronlauge (14).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2010)

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