Klage

Schweiz: Klima-Aufstand der Seniorinnen

Die ehemalige Schweizer Nationalrätin Pia Hollenstein am Bahnhof in St. Gallen. Mit dem Verein „Klimaseniorinnen“ geht sie gegen die Schweiz vor Gericht.
Die ehemalige Schweizer Nationalrätin Pia Hollenstein am Bahnhof in St. Gallen. Mit dem Verein „Klimaseniorinnen“ geht sie gegen die Schweiz vor Gericht.Frederick Sams
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Die „Klimaseniorinnen“, ein Zusammenschluss von Frauen über 64, bringen die Schweiz in Straßburg vor Gericht: Sie klagen wegen Nichteinhaltung der Menschenrechte und fordern ehrgeizigen Klimaschutz. Ein Urteil hätte große Auswirkungen.

Nun ist es schon 20 Jahre her. Eine Hitzewelle legte sich über Teile Europas. Der Jahrhundertsommer lähmte ganze Ortschaften, in Portugal stieg die Temperatur auf 47 Grad, Deutschland verzeichnete am Oberrhein mit über 40 Grad den damaligen Hitzerekord. In Frankreich war die Lage noch schlimmer. Von mindestens 45.000 Hitzetoten ist auszugehen, allein in Wien waren es 130. Hitzetote – erstmals ging diese Bezeichnung durch die Medien. Von älteren Betroffenen war die Rede. Und davon, dass die Sommer immer heißer werden.

20 Jahre später zitiert Pia Hollenstein Studien. „Nicht, weil wir Männer nicht mögen würden“, sagt sie dabei, „aber es ist erwiesen, dass ältere Frauen von Hitzewellen übermäßig betroffen sind.“ Sie erzählt von zwei Mitstreiterinnen, die, ärztlich attestiert, während Hitzewellen das Haus nicht verlassen dürfen, „weil sie sonst kollabieren“. „Überdurchschnittliche Betroffenheit“, das sagt Hollenstein oft. Und sie sagt: „Es ist ein Grundrecht, dass man denen, die überdurchschnittlich betroffen sind, zur Gesundheit verhilft.“


Pia Hollenstein, 72, kurze, weiße Haare, rot-schwarz gestreifter Schal. In einem Café in St. Gallen legt sie ihren Radhelm auf den Tisch, zieht aus ihrem Rucksack die geordneten Unterlagen hervor. 14 Jahre lang war Hollenstein für die Grünen im Schweizerischen Nationalrat, und jetzt geht sie gegen die Schweiz vor Gericht. „Wir erwarten, dass wir gewinnen.“

Hollenstein ist eine von mittlerweile rund 2000 Klimaseniorinnen in der Schweiz, die seit geraumer Zeit Aufsehen erregen und die nun für ein Urteil mit großer Tragweite sorgen könnten. Im August 2016 gründeten engagierte Frauen über 64 Jahren den Verein, der in der Folge durch alle Schweizer Instanzen ging, um folgende Frage zu klären: Tut Bern genug, um ältere Frauen vor dem Klimawandel zu schützen? Nein, sagen die Betroffenen. Es brauche nicht mehr getan zu werden, sagten die Instanzen: zunächst das Umweltdepartement, dann das Gericht in St. Gallen, dann das Bundesgericht in Lausanne. Die Schweiz kennt keine Verfassungsklage, die Klägerinnen müssen daher vor Gericht beweisen, dass sie direkten Schaden erleiden. Das Gericht in Lausanne sei zu dem Schluss gekommen, dass die Schweiz für die Maßnahmen noch Zeit habe. „Das stimmt einfach nicht“, sagt Hollenstein, „das war sehr enttäuschend.“


Unter Zugzwang. Dann, im November 2020, der Gang nach Straßburg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Seniorinnen sind die Ersten, die Umweltfragen als Menschenrechte nach Straßburg brachten. Das Gericht übergab die Klage an die Große Kammer, die schwerwiegende Fragen zur Auslegung oder Anwendung der Menschenrechtskonvention behandelt. Am 29. März findet die Anhörung statt, die Stellungnahme aus Bern ist bereits eingelangt, so auch jene von Drittparteien; neben Wissenschaftlern hat auch die ehemalige UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet ein Statement abgegeben. „Die Schweizer Klimaklage ist am Gerichtshof einer der ersten ihrer Art und könnte zu einem Präzedenzfall für ganz Europa werden“, schreiben die Klimaseniorinnen. Und tatsächlich: Sollte das Gericht in Straßburg ihnen recht geben, geraten alle 46 Mitgliedstaaten, darunter auch Österreich, unter Zugzwang, was die Klimapolitik betrifft.

„Es ist für uns klar, dass Menschenrechte verletzt werden“, sagt Pia Hollenstein. „Und deshalb muss man auch jetzt handeln.“ Immer öfter landen Klimafragen vor internationalen und nationalen Gerichten, derzeit dürften es knapp 2000 sein. Vor zwei Jahren haben portugiesische Kinder und Jugendliche ebenfalls in Straßburg 33 Länder in Europa angeklagt; diese würden zu wenig unternehmen, um die Ziele des Pariser Abkommens zum Klimaschutz einzuhalten. In den Niederlanden war das zuletzt erfolgreich und führte zu einem Tempolimit auf den Autobahnen.

Freilich brauche es für den Klimaschutz den politischen Weg, sagte jüngst Klimaseniorinnen-Anwältin Cordelia Bähr dem SRF. Doch: „Es ist eine Rechtsfrage, ob die Menschenrechte verletzt sind oder nicht.“ Ihre Hoffnung ist, dass der Gerichtshof in Straßburg Leitlinien definiert, was die Schweiz, und in der Folge die weiteren Staaten, tun müssten, damit die Erderwärmung zurückgeschraubt werden kann.


Auf die Palme. Ihre Erfahrung aus dem Parlament sei es, sagt Hollenstein, dass die Schweiz empfindlich reagiere, wenn ihr Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, gerade die Schweiz, die in vielerlei Hinsicht als Musterland gilt. Aufgewachsen als Bauerntochter im ländlichen Toggenburg südlich von St. Gallen sei ihr das Umweltbewusstsein quasi in die Wiege gelegt worden, „für mich war die Umwelt immer ein großes Anliegen“. Die Klimaseniorinnen beschreibt sie als engagierte Frauen, die auch in ihrem Berufsleben dieses Engagement vorweisen könnten; Mitglieder des Vereins können nur Frauen über 64 werden. „Und Mitglied ist gleich Klägerin.“

In ihrem beruflichen Werdegang, erzählt Stefanie Brander, habe sie sich mit sozialer Gerechtigkeit auseinandergesetzt, weniger mit Umweltfragen. „Aber es war mir bewusst, dass hier etwas getan werden muss.“ Schließlich sei doch die Schweiz die Drehscheibe des Rohstoff- und Finanzhandels, das habe den Ausschlag gegeben für ihr Engagement. „Und etwas hat mich auch auf die Palme gebracht“, so Brander. Wie mit jungen Menschen umgegangen werde, die aktionistisch auf die Klimakatastrophe aufmerksam machten. Stefanie Brander, früher als Gleichstellungsbeauftragte tätig, kam nach ihrer Pensionierung zu den Klimaseniorinnen. Sie wohnt nahe Vevey am Genfersee, und hier, in der französischen Schweiz, gebe es einen sehr starken wissenschaftlichen Zugang zum Thema Umweltschutz und Klima.

Auch wenn die Westschweiz mit der Implementierung von Umweltmaßnahmen genauso hinterherhinke wie der Rest der Landes, sei hier „die Mobilisierung wahrscheinlich schneller und radikaler als in der Deutschschweiz“. So weist Brander auf „La Marche Bleue“ hin, einen Marsch von Genf nach Bern ab dem 1. April. Damit fordern hauptsächlich Frauen einen „radikalen Wandel, der unsere Zukunft sichert“.

Rückschlag. Betroffen vom Klimawandel ist freilich die ganze Alpenrepublik: Die Gletscher schmelzen, im Winter bleibt der Schnee aus, die Landwirtschaft leidet unter Dürreperioden. Silvester verbrachten Teile der Schweiz bei frühlingshaftem Wetter, Delsberg im Kanton Jura verzeichnete 20 Grad. „Meine Generation hat das Desaster überhaupt erst verursacht“, sagte unlängst Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen. Als Greenpeace bei ihr anklopfte, um eine Klage vorzubereiten, sei sie sofort bereit gewesen. Die NGO unterstützt die Klage der Seniorinnen, ihre Strukturen sind den Klägerinnen nützlich, auch finanziell – Anwaltshonorare – hilft Greenpeace aus.

Einen Rückschlag erlebten die Schweizer Klimaaktivsten vor zwei Jahren, als die Stimmbevölkerung die CO2-Initiative ablehnte – damit wollten Bundesrat und Parlament den Ausstoß von Treibhausgasen senken. „Wir haben ja alles versucht“, sagt Pia Hollenstein. Wenn sie gefragt werde, warum sie denn unbedingt nach Straßburg müssten, verweise sie unter anderem auf die CO2-Initiative. „Somit sind wir hinter den anderen europäischen Ländern.“

Mittlerweile habe die Öffentlichkeit die Anliegen der Klimaseniorinnen gut aufgenommen. Bisweilen treten die Frauen bei Veranstaltungen mit der Klimaschutzjugend gemeinsam auf. „Wir haben die gleichen Ziele“, sagt Hollenstein, „wir wollen eine Zukunft, die verantwortbar ist.“ Und wie auch immer das Urteil in Straßburg ausfallen werde – die Arbeit der Klimaseniorinnen sei damit nicht vorbei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2023)

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