Eugen Ruges "In Zeiten des abnehmenden Lichts": Eine raffinierte Erzählung, eine tolle Milieustudie aus der DDR.
Mehr an Vorschusslorbeeren ist kaum vorstellbar: 2009 wurde Eugen Ruges (*1954) erstes großes Prosa-Manuskript „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ mit dem Döblin-Preis ausgezeichnet, 2011 mit dem Aspekte-Literaturpreis. Der Roman ist im September erschienen (Rowohlt Verlag, 429 Seiten) – schon steht er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Was macht dieses Werk so attraktiv? Es erzählt Welt- und Familiengeschichte aus einem halben Jahrhundert, den Fall des Stalinismus vor allem und was danach kam. Es wirkt authentisch. Woher hat der Autor den Stoff?
Ruge wurde im Ural geboren, in Sosswa, als Sohn eines deutschen Kommunisten, der von Stalins Sowjets in den Gulag verbannt worden war. Mit vier Jahren kam Ruge junior mit seinen Eltern nach Ostberlin. Er studierte Mathematik, ging in die Wissenschaft. Noch vor der Wende 1989 aber begann er zu schreiben, für Theater, Rundfunk und Film. 1988 setzte er sich in den Westen ab. Er übersetzte auch Tschechow. Das spürt man dem Roman an.
Was also hat er uns zu sagen? Ereignisreich, aus vielen Perspektiven lernen wir ein Milieu kennen, das an den Sozialismus geglaubt hat. Die Großmutter und ihr zweiter Mann waren überzeugte Kommunisten, die aus dem Exil in Mexiko in die eben entstandene DDR zurückkehrten. Den Vater hat die eigene Ideologie fast umgebracht, aber er kehrt mit seiner russischen Frau und dem kleinen Sohn auch nach Berlin zurück. Und der geht kurz vor der Wende in den Westen – am 90. Geburtstag des Stiefgroßvaters.
Dieses exzellente Buch liegt offenbar nah an der Realität. Wolfgang Ruge war ein fleißiger DDR-Historiker, sein Lebenswerk wurde nach 1989 Makulatur, bis auf die Memoiren über seine Jahre in der Sowjetunion. Der autobiografisch gefärbte Roman des Sohnes ist quasi eine Fortschreibung dieser Saga, aber mit äußerst raffinierten Mitteln. Es schildert nicht nur den Verfall einer Familie (der Vater ein Pflegefall, der Sohn hat Krebs), sondern illusionslos den eines ganzen Systems.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2011)