Angelika Klüssendorfs "Mädchen" – ein Roman über ein Kind, das überlebt und weiß nicht recht wie.
Auf Seite eins fliegt den Passanten die Scheiße um die Ohren. Und das nicht sprichwörtlich: Ein Mädchen vertreibt sich mit geübten Würfen seine Zeit, seit Tagen wartet es, eingesperrt in der Wohnung, auf die Mutter. Das ist nichts Ungewöhnliches, es ist sogar fraglich, ob sie und ihr Bruder unter der Abwesenheit der Mutter leiden. Wenn sie zurückkommt, wird sie schlechter Laune sein. Sie wird auf die Kinder eindreschen. Da ist es lustiger, mit Scheiße zu schmeißen.
Das Interessante: Die Passanten reagieren zwar empört. Aber keiner schaut nach, was los ist. Diese Gleichgültigkeit wird uns noch oft begegnen in dem für die „Shortlist“ nominierten Roman von Angelika Klüssendorf, der eine Kindheit in der DDR beschreibt, die auch im Westen so oder wenig anders hätte „passieren“ können. Aber dieser Roman spielt eben in der DDR, wo Klüssendorf geboren ist – und erntet darum in Leserforen zum Teil hasserfüllte Kommentare.
Dabei geht es um keine Abrechnung. Es geht um einen Triumph. Denn das Mädchen wird überleben – die Mutter, den Vater, die sozialistischen Heime. Sie wird erwachsen werden und weiß nicht recht wie, sie wird Schwächere zurücklassen, etwa ihren Bruder, der von Jahr zu Jahr mehr Ticks entwickelt, der sich nicht abgrenzen kann. Am Ende wird sie sich zur Zootechnikerin/Mechanisatorin ausbilden lassen, genauso wie Angelika Klüssendorf selbst (was bedeutet, dass sie lernte, Kühe zu melken). Ob das Mädchen wohl auch den Absprung schaffen wird? Klüssendorf übersiedelte 1985 in die BRD, im gleichen Jahr erschien ihr erster Roman, 1989 wurde sie zum Bachmann-Preis eingeladen. „Das Mädchen“ ist ihr siebentes Buch. best
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2011)