Närrisch nächstenlieb? Der maßlos gute Christ

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Ein Mädchen, das sein letztes Hemd verschenkt, ein Mann, der für einen anderen verhungert, und natürlich Jesus: Das Christentum hat die stärksten Vorbilder in Sachen Gutsein. Auch die karitative Wohltätigkeit hat es erfunden.

Ach, diese guten Menschen! Der Held des Romans „Goodness“ des britischen Autors Tim Parks ist nicht gut auf sie zu sprechen. „Mein Vater war Missionar und wurde 1956 in Burundi ermordet. Es war größtenteils seine eigene Schuld“, beginnt er seine Geschichte. Fast musste die ganze Familie dran glauben. „Wenn ich an seinen Märtyrertod denke, dann mit vollkommenem Unverständnis.“ Für Georges ist der Tod des Vaters der Beginn einer Kette von Ereignissen, „bei denen das Bestreben der anderen, gute Menschen zu sein, sich zu meinem persönlichen Nachteil auswirkte und zudem aller Vernunft widersprach“.

Aller heutigen Vernunft widerspricht die Tugendhaftigkeit der meisten christlichen Märtyrer. Wer lässt sich schon aufspießen, vierteilen oder verbrennen, um seinen Glauben zu bezeugen? Genau das taten die meisten, das gehörte zur Gottesliebe, die laut kirchlicher Lehre noch vor der Nächstenliebe kommt. Auch bei der Nächstenliebe stand traditionell die „geistliche Not, bei der es sich um das ewige Leben handelt“, im Vordergrund, erst an zweiter Stelle kam die „leibliche“. Wer nicht gläubig ist, wird dem wenig abgewinnen, zumal der Kampf gegen „geistliche Not“ in der christlichen Geschichte auch unmenschliche Formen angenommen hat.

Darf man Gutes öffentlich inszenieren?

Ist die christliche Moral verrückt, unvernünftig, ja schädlich? Manche Christen kokettieren sogar mit dem Etikett der Verrücktheit, wie Shane Clayborne in seinem Buch „Ich muss verrückt sein, so zu leben.“ Der 37-jährige Amerikaner predigt radikale Jesus-Nachfolge, lebt in einer klosterähnlichen Gemeinschaft in einem Armenviertel von Philadelphia, engagiert sich unentwegt in sozialen Fragen und als Friedensaktivist. Er ist so etwas wie ein Star der Nächstenliebe, was einen weiteren alten Kritikpunkt berührt. Tue Gutes im Verborgenen, lehrt Jesus. Wie passt dazu die öffentliche Inszenierung christlicher Tugendhaftigkeit?

Dieses Dilemma ist nicht ganz auflösbar, das Christentum kommt ohne Vorbilder nicht aus. So wurde auch Mutter Teresa zum Mythos gemacht. Manche kratzen daran – sie habe Patienten keine Schmerzmittel gegeben, wird behauptet, habe ihr Leiden als Exerzierplatz der Heiligkeit benutzt. Auch das ist ein alter Vorwurf: Will der Christ im Grunde gar nicht, dass das Leiden verschwindet? Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ ist die in Literatur gegossene Anklage gegen eine Religion, die Menschen zwinge, gut zu sein, und zugleich an der Erhaltung einer ungerechten Welt mitwirke, in der man als guter Mensch untergehe.

Ein Vorwurf, den man der heutigen Kirche im Großen und Ganzen nicht mehr machen kann. Allerdings könnte man auf den Gedanken kommen, dass das Christentum als Ethiklieferant durchaus ersetzbar ist, wenn man liest, wie bescheiden die Forderungen an den „normalen“ Christen in der Geschichte oft gewesen sind. So findet man beispielsweise im deutschen „Lexikon für Theologie und Kirche“ 1934 unter dem Abschnitt „Nächstenliebe“: Die Pflicht der Hilfeleistung in Not bleibe „meistens nur eine allgemeine und in den Schranken eines mäßigen Beitrags zur Linderung allgemeiner Not“. Nur besondere Not verpflichte zu größeren Opfern – und auch da vor allem gegenüber Nahestehenden.

Freilich dachten in der Geschichte des Christentums viele anders, und auch die „leibliche“ Not wurde sehr ernst genommen. So sehr, dass daraus die karitative Wohltätigkeit entstand, wie sie der Westen heute kennt. Sie war im Ausmaß und in der Ausdehnung auf alle Menschen, auch die „Feinde“, weder vergleichbar mit der Praxis der heidnischen Antike noch mit irgendeiner anderen der damaligen Welt, auch keine andere Religion hat Ähnliches hervorgebracht. Ausgerechnet der Freigeist Voltaire schrieb, es gebe „vielleicht auf Erden nichts Größeres“ als den Einsatz der Frauen in den Spitälern für die Linderung des menschlichen Elends. „Menschen, die von der römischen Religion getrennt sind, haben diese großzügige Nächstenliebe immer nur unvollkommen nachahmen können.“

Dieses Staunen begleitete das Leben der Christen von Anfang an, glaubt man den Quellen. Schon im vierten Jahrhundert findet man es bei Pachomius, einem heidnischen Soldaten, der sich erstaunt über die römischen Kameraden erkundigt, die unterschiedslos und unermüdlich allen Notleidenden helfen. „Was für eine Religion ist das“, fragt er sich, „die Menschen so handeln lässt?“ Während der Pest in Karthago und Alexandria fallen die frühen Christen auf, weil sie die Einzigen sind, die sich trauen, den Sterbenden zu helfen. Sie institutionalisieren auch die Betreuung von Witwen und Waisen.

Seneca: „Nur kranke Augen werden feucht“

Schon die Stoiker forderten den Dienst am Mitmenschen. „Er wird Gutes tun, denn er ist dazu geboren, seinen Mitmenschen beizustehen“, schreibt Seneca über den weisen Menschen. „Er wird den Schiffbrüchigen beistehen, den Geächteten ein Obdach und den Armen Almosen geben, den Sohn seiner weinenden Mutter zurückgeben, den Sträfling vor der Arena retten und selbst den Verbrecher bestatten.“ Allerdings ohne Mitleid: „Nur kranke Augen werden feucht, wenn sie die Tränen in den Augen anderer sehen.“

Aber wer wird wohl mehr für andere geben? Jene, die wie die Stoiker aus Pflichtgefühl, oder jene, die aus Liebe handeln? Wenn es darum geht, die materiellen Ursachen des Leidens in der Welt zu beseitigen, braucht man das Christentum nicht unbedingt. Dort allerdings, wo es darum geht, mit dem nun einmal vorhandenen Leiden umzugehen, Menschen zu trösten, die seelisch oder körperlich Hilfe brauchen, und ihnen ein Gefühl des Angenommenseins, der Einzigartigkeit und Würde zu geben, auch wenn sie gesellschaftlich noch so „unnütz“ und beschwerlich erscheinen – da ist das Christentum unschlagbar. Ginge es um eine gewinnorientierte Firma, würde man sagen: Sie hat mit der Autorität und dem Vorbild Jesu einen Wettbewerbsvorteil.

Auch wenn die Wurzeln dieses Einsatzes heute nur für wenige nachvollziehbar sind, immer noch haben Figuren wie das Mädchen aus dem Märchen „Die Sterntaler“, das sein letztes Hemd verschenkt, oder Maximilian Kolbe, der im KZ für einen anderen in den Hungerbunker gegangen ist, etwas tröstlich Verheißungsvolles. Sind es nur Narren, die sich selbst betrügen? Irdisch gesehen ist die Frage letztlich nicht wichtig. Jene, denen geholfen wird, profitieren, jene, die helfen, auch. Gläubige mögen ja nicht immer gut sein, aber Studien sagen: Glücklicher sind sie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)

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