Das moralische Dilemma: Der gute Mensch im Zwiespalt

Zug
ZugMichaela Bruckberger
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Würden Sie einen Mann vor den Zug werfen, wenn Sie fünf retten könnten? Moralische Entscheidungen sind nicht „vernünftig“. Das hat sein Gutes.

Es ist ein seltsam anmutendes Szenario – und darüber, wie realistisch es ist, sollte man sich eher keine Gedanken machen. Aber es lehrt uns einiges über die Art und Weise, wie Menschen moralisch urteilen: Angenommen, Sie stehen auf dem Bahnsteig und sehen, wie ein Zug sich nähert. Er ist führerlos und droht fünf Gleisarbeiter zu überfahren. Sie hätten nun die Möglichkeit, einen Menschen – die Rede ist von einem dicken Mann, seine Masse könnte den Zug stoppen – auf die Schienen zu werfen. Dann würden die fünf Arbeiter verschont. Was tun? Den Mann opfern? Wohl eher nicht. Wenn doch, gehören Sie zu einer Minderheit von etwa 15 Prozent.

Bei der zweiten Variante des ursprünglich von Philippa Foot entwickelten, von Judith Jarvis Thomson erweiterten „Trolley-Problems“ fällt das Ergebnis dagegen völlig anders aus: Eine Weiche muss umgelegt werden, dann werden nicht die fünf Arbeiter überfahren, sondern nur ein einzelner Mann am Nebengleis. In diesem Fall ist der Tod eines Menschen nicht Mittel zum Zweck. Er ist „nur“ die Folge einer Handlung. 90 Prozent der Probanden entscheiden sich in diesem Fall dafür. Übrigens auch dann, wenn nicht nur gefragt, sondern die Situation nachgespielt wird – in einer Computersimulation, wie vor zwei Jahren an der Michigan State University. Da erwies sich, dass ältere Menschen weniger zögerten, einen Menschen für fünf andere zu opfern. Je emotional erregter die Probanden waren, desto seltener legten sie übrigens die Weiche um.

Drei Tote in Boston schockieren uns

Für Utilitaristen, die ethische Urteile nach dem Nützlichkeitsprinzip fällen, ist die Sache dabei klar: fünf Tote gegen einen. Was ist daran so schwer? Die meisten aber empfinden ein Dilemma: Moralische Entscheidungen treffen wir eben nicht nach rationalen Gesichtspunkten, wie dies etwa Kant nahelegte – jedenfalls nicht nur. Wir machen feine Unterschiede, die oft emotionale Gründe haben, manche sprechen von einer „moralischen Grammatik“, die uns angeboren ist: Wir halten es selbstverständlich für unmoralisch, einen blutenden Menschen am Straßenrand liegen zu lassen, den wir vielleicht retten könnten, wenn wir ihn ins nächste Krankenhaus führten – nur weil wir Angst haben, er könnte die neuen, teuren Sitze ruinieren. Diese Sitze aber teuer zu erwerben, statt Geld zu spenden, und damit möglicherweise das Leben eines Menschen auf einem anderen Kontinent zu retten, erscheint uns normal: Wir werden Erklärungen für diesen Spende-Unwillen finden. Wir werden sagen, dass unser Geld nicht verlässlich hilft, aber das tut es im ersten Fall auch nicht.

Was uns nahe ist, ist uns wichtig. Die eigene Frau, das eigene Kind, der eigene Mann, die eigene Verwandtschaft, die Freunde, jene, die uns ähneln. Wenn wir entsetzt sind über drei Tote bei einem Anschlag in Boston, während in Syrien jeden Tag Tausende ihr Leben lassen – dann liegt das daran, dass wir in den Marathon laufenden US-Amerikanern uns selbst sehen.

Für wen gilt die „goldene Regel?“

Diese emotionale Ungerührtheit wird oft verurteilt. Und die sie verurteilen, scheinen die Moral auf ihrer Seite zu haben. Wir gehen fehl, das wissen wir, und es ist uns unangenehm. Aber unsere Irrationalität in diesen Dingen kann auch ihr Gutes haben: Denn es dürfte zwar eine Art angeborene Moral geben, eine in unseren Genen festgeschriebene, sie hat mit unserer Fähigkeit zu tun, uns einzufühlen. Aber diese Moral wird durch gesellschaftliche Konventionen geformt: Die oft zitierte „goldene Regel“ etwa, die besagt, dass man dem anderen nicht antun darf, was man nicht selbst erfahren will, scheint universelle Gültigkeit zu haben. Aber verschiedene Kulturen und Zeiten haben daraus unterschiedliche Schlüsse gezogen, einfach, indem sie Gruppen ausgrenzten. Für diese galt die Regel nicht: Die alten Griechen etwa setzten selbstverständlich Neugeborene aus, noch das „Alte Testament“ betrachtet Sklaven als Eigentum („Wer seinen Sklaven oder seine Sklavin schlägt mit einem Stock, dass sie unter seinen Händen sterben, der soll dafür bestraft werden. Bleiben sie aber einen oder zwei Tage am Leben, so soll er nicht dafür bestraft werden, denn es ist sein Geld.“). Bis ins 21. Jahrhundert engen Rassismus, Antisemitismus, zum Teil Chauvinismus die Geltung der Regel ein und verformen das moralische Empfinden: Der Nationalsozialismus hat es so weit pervertiert, dass Massenmörder und Folterer ruhigen Schlaf fanden.

In solch pervertierten Systemen ist unser irrationales Empfinden für Moral eine Quelle des Widerstandes, sie ermöglicht über Empathie das „richtige“ Handeln. Kants kategorischer Imperativ dagegen hilft in solchen Situationen nicht viel weiter: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz wird“ – das funktioniert nur so lange, als das Gesetz, an das man glaubt oder das man anstrebt, selbst kein Verbrechen ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)

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