Österreichs Asylplan: Rechtsmeinung "nicht so einheitlich wie dargestellt"

Benedikt Kommenda
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Maria Berger, Richterin am EU-Gerichtshof, betont, dass noch ausjudiziert werden müsse, ob die im Regierungsgutachten erwähnte Notstandsklausel greifen kann.

Die Presse: Wie sehr prägte der Europäische Gerichtshof den Einigungsprozess?

Maria Berger: Sein größter Verdienst liegt darin, die Durchsetzung des europäischen Rechts zu gewährleisten. Es ist auch aus Wettbewerbsgründen sehr wichtig, dass das Recht in allen Mitgliedstaaten möglichst einheitlich angewandt wird. Und dass dort, wo die Bürger Rechte eingeräumt bekommen haben, diese auch tatsächlich durchgesetzt werden können und dass das Unionsrecht teilweise Vorrecht vor dem nationalen Recht hat.

Hat der EuGH durch Urteile für einen Einigungsprozess gesorgt, den die Politik zu diesem Zeitpunkt gar nicht so wollte?

Das glaube ich nicht. Es war schon die Politik, die durch neue Verträge den Einigungsprozess vorangetrieben hat. Diese Verträge sind aber oft nicht eindeutig, und dann obliegt es uns, diese auszulegen.

Ein großes Thema in Österreich ist das neue Asylrecht. Rechnen Sie damit, dass der EuGH darüber einmal wird richten müssen?

Das kann man zumindest nicht ausschließen. Das Thema könnte im Wege einer Vertragsverletzungsklage der Kommission oder eines anderen Mitgliedstaates oder im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens über ein nationales Gericht den Weg zu uns finden.

Wie lang würde es etwa dauern, bis über eine solche Klage entschieden wird, und welche Chancen hätte sie?

Ein Verfahren bei uns dauert circa 16 Monate; wenn Dringlichkeit geltend gemacht und zuerkannt wird, geht es auch in drei Monaten. Zu den Chancen kann ich nichts sagen, außer dass sich die Novelle auf Art 72 AEUV stützt, zu dem es bisher keine Rechtsprechung des EuGH gibt. Das Gutachten der Professoren Obwexer und Funk stützt sich auf wissenschaftliche Lehrmeinungen, die aber auch nicht so einheitlich sind, wie es im Gutachten dargestellt wird.

Man muss also noch klären, ob hier eine Notstandsklausel überhaupt greifen kann?

Ja, das ist nicht ausjudiziert. Alles, was sich darauf stützt, ist in gewissem Maß spekulativ.

Sie waren EU-Abgeordnete, Justizministerin und damit im EU-Ministerrat vertreten, nun sind Sie EU-Richterin: In welcher Staatsgewalt kann man am meisten in der EU bewegen?

Tatsächlich bin ich die einzige Österreicherin, die allen drei EU-Institutionen angehört hat. Es gab noch einen Italiener, der ähnliche Funktionen innehatte. Jede Institution hat ihre Meriten. Mein Werdegang hat auch etwas mit persönlicher Entwicklung zu tun. Vor 15 Jahren hätte ich mir noch nicht vorstellen können, am EuGH zu sein. Da war mir das aufgeregte Leben im Europaparlament sicher noch näher. Heute bevorzuge ich die eher ruhige und konzentrierte Arbeitsweise am Gerichtshof.

Um Richter an einem Bezirksgericht in Österreich zu werden, benötigt man fünf Jahre Ausbildung. Beim EuGH kann man hingegen das Amt ausüben, ohne je Richter gewesen zu sein. Wie kann man das rechtfertigen?

Die Bestimmungen in den EU-Verträgen verweisen hier auf die Bestimmungen, die für die Richter an ihren nationalen Höchstgerichten gelten, das ist in Österreich der Verfassungsgerichtshof. Und um am Verfassungsgerichtshof Richter zu werden, muss man auch nicht ordentlicher Richter sein. Die wenigsten, die am EuGH Richter sind, waren vorher ordentliche Richter. Viele waren Universitätsprofessoren oder in den juristischen Diensten der anderen EU-Institutionen oder der Mitgliedstaaten tätig, manche Verfassungsgerichtshof-Präsidenten. Es ist bewusst gewollt, dass es hier möglichst viele Zugänge gibt. Und wir sind ja keine Strafrichter, wir müssen nicht irgendwelche verstockte Zeugen zum Reden bringen. Unsere Tätigkeit ist mehr mit der eines Verfassungs- oder Verwaltungsrichters zu vergleichen.

Sie sind sogar direkt von der Politik an den EuGH gewechselt. War das in irgendeiner Weise ein Problem?

Nein, im Gegenteil. Es wurde bei meiner Angelobung vom damaligen Präsidenten des EuGH positiv hervorgehoben, dass ich sehr gut die anderen Richter ergänze. Weil ich die Einzige war, die den Bereich der Gesetzgebung der Union von beiden Seiten – vom Europäischen Parlament und Ministerrat – gekannt hat. Und das gilt als wichtige Erfahrung für den Gerichtshof. Mittlerweile sind drei ehemalige Justizminister am EuGH tätig.

Die Arbeitssprache am Europäischen Gerichtshof ist Französisch. Ist das noch zeitgemäß, wenn Englisch inzwischen als die Weltsprache gilt?

Die Idee, eine einheitliche Amtssprache zu haben, ist damit begründet, dass die Debatten der Richter auch ohne Dolmetscher stattfinden können und das Beratungsgeheimnis gewahrt wird. Ob das die eine oder andere Sprache ist, ist jetzt nicht so entscheidend. Wir leben hier in Luxemburg auch in einem teilweise französischsprachigen Land.

Und können alle Richter, die neu an den Europäischen Gerichtshof kommen, schon so gut Französisch? Oder lernt man das teilweise erst?

Es ist sicher wichtig, dass man gute Grundkenntnisse hat. Aber es kommt dann noch die Fachsprache dazu. Sie lernt man in der Regel dann tatsächlich erst hier.

Die Richter kommen aus verschiedenen Ländern und Rechtskreisen. Kommt es deswegen manchmal zu Missverständnissen oder Diskussionen?

Ganz selten. Das Unionsrecht ist mittlerweile eine so eigenständige Rechtsordnung geworden, dass kaum noch unterschiedliche Zugänge bestehen können. Wo man nationale Traditionen oft noch ein bisschen merkt, ist bei den verfahrensrechtlichen Aspekten. So sind die Kollegen, die aus dem britischen System kommen, im Zweifel immer für eine Verhandlung. Während Kollegen, die aus dem französischen System kommen, hier eher zurückhaltender sind.

Kann man in der mündlichen Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof noch viel bewegen?

Schon. Wir haben ja sehr viele mündliche Verhandlungen, was uns von anderen Höchstgerichten unterscheidet. Es findet zwar vorher auch ein schriftliches Verfahren statt, und wir kennen die Positionen der beteiligten Parteien aus deren Schriftsätzen. Aber der Vorteil einer mündlichen Verhandlung ist doch der, dass die Parteien sich dann direkt austauschen und wir Richter nachfragen können, wenn etwas unklar ist. Und von unserem Fragerecht machen wir durchaus Gebrauch.

ZUR PERSON


Maria Berger
(59) ist seit 2009 Österreichs Richterin am Gerichtshof der EU. Sie ist Honorarprofessorin an der Universität Wien und hat sich auch als Fachautorin betätigt. Die aus Perg stammende Oberösterreicherin studierte erst Anglistik und Romanistik in Salzburg, um nach einem Jahr auf Jus und Volkswirtschaft in Innsbruck umzuschwenken. Ihre Karriere startete die Juristin 1979 als Assistentin an der Uni Innsbruck. 1984 wurde Berger Bundesvorsitzende der Jungen Generation der SPÖ. 1996 ging Berger erstmals als Abgeordnete ins Europäische Parlament. 2007 berief sie Kanzler Alfred Gusenbauer als Justizministerin in sein Kabinett, in dem sie bis 2008 blieb. [ Foto: BK ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2016)

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