Müllkippe Meer und der Traum vom plastikfreien Ozean

Bis zu 8O Prozent des Plastikmülls im Meer stammen aus Asien. Hier eine Aufnahme von den Philippinen nahe Manila.
Bis zu 8O Prozent des Plastikmülls im Meer stammen aus Asien. Hier eine Aufnahme von den Philippinen nahe Manila.(c) REUTERS (Romeo Ranoco)
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In den Meeren wird es bald mehrPlastikmüllals Fische geben, schätzen Forscher. Kunststoff-Partikel sind bis in die Antarktis nachweisbar. Um die Verschmutzung zu stoppen, möchte die EU Wattestäbchen und Co. verbieten. Ein Niederländer will im September seine Vision verwirklichen und riesige Müllteppiche aus dem Pazifik fischen. Sind die Weltmeere noch zu retten? Ein Zustandsbericht.

Rich Horner wollte das tun, was er am liebsten tut: tauchen. Und zwar an einem der schönsten Plätze der Welt, wie begeisterte Taucher sagen: Manta Point, einem Flecken etwa 20 Kilometer vor der Küste Balis in Indonesien. Der Ort ist berühmt, weil man dort riesige Mantarochen sichten kann.

An jenem Tag im Frühjahr bekam der Brite jedoch etwas anderes, weniger Idyllisches zu sehen: Plastik. Plastiksäcke, Plastikflaschen, Plastikstrohhalme, Plastikbecher, Plastiktücher, Plastikverpackungen. Ein riesiger Abfallteppich schaukelte im Wasser. Und mittendrin ein Mantarochen, der versuchte, dem Müll auszuweichen.

Das Unterwasservideo, das Horner von seinem Tauchgang durch den schwimmenden Müllberg drehte, ging um die Welt und wurde mehr als 40 Millionen Mal angeklickt. Mehrere Minuten lang arbeitet er sich darin durch das Dickicht. Als Taucher, sagte er später, sehe man ständig Plastikmüll im Meer. Aber der Tag am Manta Point sei mit Abstand das Schlimmste gewesen.

Als der Leiter des UN-Umweltprogramms, Erik Solheim, im Juni in Neu-Delhi, Indien, den neuesten UN-Bericht zu Plastikmüll vorstellte, warnte er eindringlich, die Welt stehe vor einer Plastikmüll-Krise. „Unsere Ozeane werden als Müllhalde benutzt, Meerestiere erstickt und einige Meeresregionen in Plastiksuppe verwandelt.“ Lukas Hammer von der Umweltorganisation Greenpeace in Österreich spricht von einer „unglaublichen Plastikseuche“. Es sei längst nicht mehr fünf vor zwölf. „Es ist schon zwölf.“

Wissenschaftler schätzen, dass sich rund 150 Millionen Tonnen Kunststoffe bereits in den Meeren befinden. Und jedes Jahr kommen laut UNO gut acht Millionen Tonnen dazu. Das allein sei genug Müll, um fünf Einkaufstaschen damit zu füllen für jede Fußlänge Küste auf der Erde, schrieb das Magazin „National Geographic“.


Das vermüllte Paradies. Henderson ist eine Koralleninsel im Südpazifik, ein Unesco-Weltkulturerbe. Sie liegt in der Mitte zwischen Chile und Neuseeland und ist so weit weg von der Zivilisation, wie eine Insel nur sein kann. Sie könnte ein Paradies auf Erden sein: türkisblaues Wasser, weiße Sandstrände, menschenleer. Doch als zwei Forscher 2015 die Insel besuchten, mussten sie sich zunächst durch Müllberge wühlen, um überhaupt an Land zu kommen.

Sie stießen auf Abfall aus Russland, Japan, China und Südamerika, aus Europa und den USA. 38 Millionen Plastikteile, darunter Kleinstteile, habe man gezählt, schrieben sie später in einem Fachmagazin. Doch die Zahl sei keineswegs vollständig. Und jeden Tag schwemme das Meer 3500 weitere Plastikstücke an. Die Meeresströmungen transportieren den Müll überall hin auf der Welt. Den berühmtesten Beweis dafür lieferten Zigtausende gelbe Plastikenten, die 1992 von einem Frachter im Pazifik über Bord gingen. Die Tierchen tauchten, teilweise viele Jahre später, an Stränden auf der ganzen Welt wieder auf. Sogar im Atlantik.

Strandmüll. „Das Plastik verteilt sich überall. Und gerade die Strände, die im Nirgendwo liegen und nie benutzt werden, sind besonders verschmutzt“, sagt Michael Stachowitsch. Der Meeresbiologe von der Universität Wien kennt sich aus mit dem Müll. 20 Jahre lang hat er recherchiert und dokumentiert, was für Abfälle an den Küsten der Welt angeschwemmt werden. Auf seinen Reisen ans Mittelmeer, in die USA, nach Asien und in die Karibik hat er über die Jahre 10.000 Fotos gemacht von den Dingen, die er an den Stränden gefunden hat. Jetzt hat er ein Buch darüber geschrieben, das Ende September erscheinen soll. Titel: „The Beachcomber's Guide to Marine Debris“, ein launig geschriebenes Handbuch über Meeresmüll für Leute, die gerne Strandgut sammeln. Es sagt viel aus über unsere Wegwerfgesellschaft.

„Das Interessante ist, dass man eigentlich an jedem Strand der Welt dieselben Gegenstände findet“, sagt Stachowitsch. „Und man braucht nur ein kleines Stück Strand, um alles zu finden, was es da gibt – vom Zigarettenstummel über die Plastikflasche bis hin zur Bierdose.“

Die US-Umweltorganisation Ocean Conservancy ruft jedes Jahr am 15. September zu einer weltweiten Müllsammelaktion an Küsten und Flussufern auf. In ihrem Jahresbericht hat sie eine Top-10-Liste an Dingen erstellt, die bei der letzten Aufräumaktion gefunden wurden. Spitzenreiter: Über 2,4 Millionen Zigarettenstummeln, die eben auch aus Plastik bestehen. Auf den Top-Plätzen dahinter: Essensverpackungen, Plastikflaschen, Flaschenverschlüsse und Sackerln. Es gab auch allerhand skurrile Funde, etwa ein Golf-Cart, das auf den Bermudas angeschwemmt wurde, eine Waschmaschine im südostasiatischen Sultanat Brunei und ein komplettes Auto in Finnland.

Todesursache Plastik. Woher der ganze Abfall? „20 Prozent des Plastikmülls im Meer kommen direkt aus der See, 80 Prozent stammen vom Land“, sagt Lukas Hammer von Greenpeace. Zu den 20 Prozent zählen Fischernetze, die sich gelöst haben oder weggeworfen wurden, sogenannte „Geisternetze“. Es ist der Müll von Schiffen oder Sachen aus Containern, die über Bord gegangen sind. Die 80 Prozent Müll vom Land finden über Flüsse, Strände oder Abwasserkanäle ihren Weg ins Meer.

Die Folgen sind nicht nur an den Urlaubsstränden zu begutachten. In Thailand verendete vor Kurzem eine Grüne Meeresschildkröte, die Plastikmüll für Seegras und Quallen gehalten hatte. In ihrem Magen fand man Gummibänder und Teile von Fischernetzen. Ein Grindwal ging zugrunde, weil er 80 Plastiksackerln gefressen hatte.

Silvia Frey von der Organisation Ocean Care nennt Schätzungen, wonach jedes Jahr rund eine Million Seevögel und rund 100.000 andere Meerestiere an Plastikmüll sterben. „Das Plastik füllt ihre Mägen, sie fühlen sich satt, aber es nährt sie nicht.“ Mit anderen Worten: Die Tiere verhungern mit vollem Magen. Anderen schlitzen Abfallteile die Organe auf. Delfine und Wale verfangen sich in Geisternetzen und strangulieren sich oder ertrinken.

Und nicht nur das: Mit den Abfällen landen auch beigemischte Chemikalien im Meer. Das Plastik verstopft Fischernetze und blockiert die Kühlsysteme von Fischerbooten. Geisternetze verfangen sich in Schiffsschrauben, die dann repariert werden müssen. Vermüllte Strände schaden der Tourismusindustrie. Der jüngste Bericht des UN-Umweltprogramms UNEP beziffert die Kosten, die der Meeresmüll für Fischerei, Schifffahrt und Tourismus verursacht, allein in der asiatischen Pazifikregion auf 1,3 Milliarden Dollar pro Jahr. Global gesehen komme man auf insgesamt rund acht Milliarden US-Dollar jährlich, schreibt die Organisation World Wildlife Fund (WWF).

Kampf dem Strohhalm. Um der Plastikplage Herr zu werden, hat die EU-Kommission bestimmten Einwegprodukten den Kampf angesagt. Strohhalme und Wattestäbchen, Plastikgeschirr, Cocktail-Rührstäbchen und Luftballon-Halter sollen verboten werden. Alles in allem zehn Produkte, die 70 Prozent des Meeresmülls ausmachen. Bei Plastikflaschen für Getränke strebt die EU bis 2025 eine Sammelquote von 90 Prozent an. Einzelne EU-Staaten und -Regionen haben zudem eigene Initiativen angekündigt.

Auch die G7-Staaten bemühten sich auf ihrem Gipfel in Kanada im Juni um eine gemeinsame Charta zur Vermeidung von Plastikmüll. Zwei Staaten allerdings weigerten sich, das Dokument zu unterschreiben: Japan und die USA.

Europa ist mit seinen Verboten keineswegs Vorreiter. In Ruanda sind Plastiksackerln seit zehn Jahren verboten, Verstöße werden streng geahndet. Die Hauptstadt Kigali gilt als sauberste Stadt in Afrika. Im vergangenen Jahr folgte Kenia diesem Beispiel, heuer auch Burundi. Anfang August verbot Chile als erstes lateinamerikanisches Land die Ausgabe von Plastiksackerln.

Kritiker monieren, das sei ja gut und schön, aber gehe am eigentlichen Problem vorbei. Bis zu 80 Prozent des Plastikmülls im Meer, schätzen Experten, stammen nämlich aus Asien. China führt die Sünderliste mit Abstand an. Anfang des Jahres hat das Land einen Importstopp von Altplastik verhängt, unter anderem aus Gründen des Umweltschutzes. Weitere Hauptverschmutzer der Meere: Indonesien, die Philippinen, Thailand und Vietnam. Dort krankt es vor allem an der Müllentsorgung: Drei Viertel des Meeresmülls aus Südostasien, schätzt Ocean Conservancy, seien nie eingesammelt worden.

Der Müllfänger.
Boyan Slat hat einen Traum. Der Niederländer war 16 Jahre alt, als er beim Tauchen in Griechenland „fast mehr Plastik als Fische“ entdeckte. Ein Schock – und ein Erlebnis, das sein Leben veränderte. Seitdem ist er besessen davon, die Meere vom Müll zu befreien. Heute ist er 24 und sein großes Projekt, „The Ocean Cleanup“, steht kurz vor der Bewährungsprobe. Auf der Website läuft schon der Countdown, an diesem Sonntag werden es noch 13 Tage sein, der Startschuss soll am 8. September fallen. Über Crowdfunding und mit Hilfe von Experten hat der junge Mann mit dem dunklen Schopf eine Anlage entwickelt, die aus zwei riesigen Fangarmen von je 600 Metern Länge besteht. Mitten auf dem Meer sollen sie eine künstliche Küstenlinie bilden, wo der Müll angeschwemmt wird und mit Schiffen eingesammelt werden kann.

Im Visier hat Slat zunächst ein riesiges Müllgebiet nordöstlich von Hawaii, das auch der „Große Pazifische Müllstrudel“ genannt wird. Er ist der größte von insgesamt fünf großen Strömungswirbeln in den Ozeanen, wo sich Meeresmüll sammelt. Ein internationales Forscherteam hat dessen Dimension im März mit knapp 80.000 Tonnen Plastik auf einem Gebiet von 1,6 Millionen Quadratkilometern beziffert – eine Fläche, die fast 20 Mal so groß ist wie Österreich.

Innerhalb von fünf Jahren will der Holländer die Hälfte des gigantischen Müllstrudels aufgeräumt haben. Er hat damit viel Furore gemacht, in Medien wurde er schon als „Genie“ gefeiert. Doch es gibt auch viele Skeptiker.

Meeresbiologe Michael Stachowitsch etwa meint nämlich, es sei unmöglich, dass die Geräte unterscheiden könnten zwischen Müll und all dem anderen, was dort im Meer noch so flottiere. „Algen. Meeresschildkröten-Babys. Quallen.“ Auch müsse man Millionen von Kilometern fahren, um den Müll erst abzutransportieren. „Es ist ein Riesenaufwand, der ebenfalls mit Verschmutzung verbunden ist.“ Den Ambitionen von Slat räumt der Forscher wenig Erfolgschancen ein: „Alles, was ins Meer kommt, ist nicht mehr zu entfernen. Die Dimensionen sind da einfach zu groß.“

Silvia Frey von Ocean Care gibt zu bedenken, Slats Anlage filtere auch Kleinstorganismen heraus. „Die Kleinstorganismen sind die Grundlage des Nahrungsnetzes im Meer.“ Diese großflächig herauszufischen, schaffe nur neue Probleme. „Das wäre fatal.“

Zum Problem wird der Kunststoff auch aufgrund einer Eigenschaft, die eigentlich seine Stärke sein sollte: extreme Langlebigkeit. Denn anstatt sich aufzulösen, zerfällt der Müll über die Jahrzehnte in immer kleinere Teile, bis er zu Mikroplastik wird: winzige Teilchen, deren Durchmesser kleiner ist als fünf Millimeter. Das schwimmende Plastiksackerl von heute ist das Mikroplastik von morgen. Hinzu kommen Plastikteilchen, die von vornherein so klein sind, zum Beispiel Fasern aus Kunststoff-Textilien oder Reste von Peelings und Duschgels, die über das Abwasser ins Meer geraten.

Randale. Das Mikroplastik setzt sich am Meeresboden ab, es wird von Fischen, Muscheln und anderem Getier aufgenommen. Und landet auf diesem Weg, so wird vermutet, auch im menschlichen Körper. Aber dieser Aspekt ist bis dato weitgehend unerforscht.

Belegt ist dagegen, dass Mikroplastik fast überall auf der Erde nachweisbar ist. Greenpeace fand bei einer Expedition im Frühjahr Mikroplastik in der Antarktis. Forscher des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven wiesen vor einigen Monaten große Mengen an Mikroplastik im arktischen Meereis nach. Wissenschaftler der Universität Oxford belegten, dass Tiefseeorganismen mit Mikroplastik belastet sind. „Das bedeutet, es gibt keinen Ort auf der Welt mehr, der frei ist von Plastik“, sagt Greenpeace-Experte Hammer.

Für viele Umweltschutzorganisationen gibt es nur einen Weg: ein radikales Umdenken. Einweg-Plastik vermeiden und Vorhandenes besser wiederverwerten. Nur neun Prozent des je erzeugten Plastiks seien recycelt worden, rechnet das UN-Umweltprogramm vor. Doch nicht alle wollen etwas verändern, wie das Beispiel Australien zeigt: Als Supermärkte dort im Juli Gratis-Plastiksackerln abschafften, kam es in Geschäften zu Randalen von Kunden. Einige, hieß es, seien aus Empörung sogar handgreiflich geworden.

Zahlen

36,4

Milliarden Strohhalme aus Plastik werden laut einer Studie der Organisation „Seas at Risk“ in der EU pro Jahr gebraucht und weggeworfen, dazu 16 Milliarden Einweg-Kaffeebecher, 46 Milliarden Plastik-Getränkeflaschen und 2,5 Milliarden Take-away-Verpackungen.

20

Minuten ist ein Plastiksackerl durchschnittlich im Gebrauch, bevor es in der Mülltonne landet. Bis es abgebaut ist, dauert es dagegen Jahrzehnte. Eine Plastikflasche, etwa für Getränke oder Putzmittel, braucht dazu je nach Umweltbedingungen rund 450 Jahre.

fakten

Meeresmüll. Nicht der ganze Müll im Meer besteht aus Plastik, aber mittlerweile der größte Teil. Jedes Jahr kommen Millionen Tonnen Plastikmüll hinzu. Der Mittelwert liegt bei acht bis neun Millionen Tonnen, die Schätzungen schwanken zwischen 4,8 und 12,7 Millionen Tonnen pro Jahr.

Recycling. Den UN zufolge wurden nur etwa neun Prozent des jemals hergestellten Plastiks recycelt. Nur zwölf Prozent wurden verbrannt. 79 Prozent der neun Milliarden Tonnen Plastik blieben auf Müllhalden, in Flüssen und Meeren. In der EU ist die Recycling-Quote höher. In Österreich liegt sie bei etwa 33 Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.08.2018)

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