Kathedrale der Verkehrskultur: Terminal der Grand Central Station in New York.
Warten auf Reisen

Zeit, dehnbar wie Gummi

Oft löst das Warten ein schales Unendlichkeitsgefühl aus. Erst im Nachhinein können Reisende daraus brauchbare Heldensagen stricken.

Das furchtbarste Reisewarten meines Lebens fand am Flughafen Moskau-Scheremetjewo statt. Ich war aus Singapur gekommen, hatte fünf Stunden Umsteigezeit und war neben dem Abfluggate eingeschlafen. Beim Aufwachen, eh zum richtigen Zeitpunkt, merkte ich, das Gate für meinen Flug war kurzfristig geändert worden. Das neue lag gute 25 Minuten entfernt. Ich ging los, ging immer schneller, am Ende rannte ich. Bei meinem Eintreffen schloss das Gate vor meiner Nase.
Verpasst, beschied mir das gnadenlose Bodenpersonal, fliegen Sie bitte mit der nächsten Maschine, Ihr Gepäck wird ausgepackt. Diskutieren half nichts. Immerhin brachte ich eine Uniformierte dazu, mir den Schalter zu zeigen, an dem ich mein Ticket umändern konnte. Dort stand – besser, erstreckte sich, schlängelte sich böse – die Schlange meines Lebens. Ich begann als Sechsunddreißigster. Im Schneckentempo rückte ich auf. An die Reihe kam ich zwei Stunden später.
Die Schalterdame diagnostizierte kühl, ich sei hier falsch, sie könne lediglich umbuchen, Flugversäumer benötigten jedoch ein neues Ticket. Nächster Terminal, nächste Schlange. Im Zustand eines angeschossenen Roboters wartete ich eine weitere Stunde. Endlich, lang nach Mitternacht, hatte ich das neue Ticket. Es kostete 1245 Rubel, spasibo.

Wraps aus Gummi, schlechtes WLAN

»Beim Unterwegssein erweisen sich die Umstände des Transports gern als schmerzhaft.«

Flughäfen sind unsere Wartezimmer zur Hölle. Manche Verzögerungen grenzen an die Unendlichkeit. Am Ende erleben wir Zerschmetterten noch eine Zusatzverlängerung am Gepäckrollband, die länger dauern kann als der eigentliche Flug. Vorher unternehmen wir Expeditionen durch Duty-Free-Landschaften. Wir waten und warten gelangweilt durch das und neben dem minderwertigen Warenangebot, das uns der Airport-Kapitalismus unter die Schädeldecken trommeln möchte. Oder wir leiden unter gehaltloser, überteuerter Gastronomie. Gern würde ich einen Lottogewinn für einen warmen Teller frischer Nudeln eintauschen, muss aber mit schmierigen Pizzen, totenblasser Rohkost oder Wraps aus Kondomsubstanz vorliebnehmen. Je zeitgenössischer der Flughafen, desto länger dehnt sich die subjektive Wartezeit aus, da aus Marketinggründen sämtliche Vergnügungen – sieht man vom kostenpflichtigem oder schlecht funktionierenden WLAN ab – ausgespart ­bleiben.Meine Taktik besteht im möglichst frühen Auffinden eines gatenahen Sitzplatzes – und darin, nicht einzuschlafen wie damals in Moskau, vielmehr in Ratgebern wie „10.000 Rezepte gegen den Suizid“ zu blättern oder einen trübsinnigen Reiseessay in die Tasten zu dreschen. Bei Formierung der Gateschlange tu ich unbeteiligt, sitze regungslos da. Ich scheue das Gedränge auf dem Fluggastbrückenfinger. Erst wenn alle Passagiere einsortiert scheinen und der Flug bereits ausgerufen wird, hebe ich meinen Hintern. Nun stürme ich dem Bodenpersonal entgegen, meist zu hastig, denn vor dem Eingang der Maschine stauen sich Gleichgesinnte, die wie ich bis zum Schluss taktiert haben, um dem Warteschmerz ein Schnippchen zu schlagen.

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