Tag der Kriminalitätsopfer

Ausmaß an Gewalt außerhalb von Beziehungen viel höher als gedacht?

Innenminister Gerhard Karner gab am Dienstag den Gastgeber: Das 13. Symposium anlässlich des Tages der Kriminalitätsopfe legte den Fokus auf situative Gewalt.
Innenminister Gerhard Karner gab am Dienstag den Gastgeber: Das 13. Symposium anlässlich des Tages der Kriminalitätsopfe legte den Fokus auf situative Gewalt.(c) APA/TOBIAS STEINMAURER
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Zum Tag der Kriminalitätsopfer rücken Politik und Stakeholder ihren Fokus auf die situative Gewalt, bei der Opfer und Täter einander nicht kennen. Sie komme öfter vor als gedacht, sagen Experten.

Die häusliche Gewalt wird mehr: Die Zahl der Betretungs- und Annäherungsverbote stieg 2021 auf 13.690 an. 2020 waren es 11.652. Insgesamt 11.238 Gefährderinnen und Gefährder wurden 2021 weggewiesen (2020: 9.689). Auf den ersten Blick sind diese Zahlen besorgniserregend.

Auf den zweiten bedeuten sie allerdings auch, dass die Sensibilität der Gesellschaft für häusliche Gewalt sukzessive steigt. Denn nur wenn sie angezeigt wird, scheint sie in der Anzeigenstatistik auf. Sensibilisierung ist auch jenes Schlagwort, dass Opferschutzorganisationen wie der Weiße Ring für die situative Gewalt fordern – am Montag in der „Presse“, am Dienstag im schlichten Vortragssaal des Innenministeriums: Dort stand das 13. Symposium anlässlich des Tages der Kriminalitätsopfer auf dem Programm, das die Bundesminister für Inneres (Gerhard Karner), Frauen (Susanne Raab, beide ÖVP), Justiz (Alma Zadić) und Soziales (Johannes Rauch, beide Grüne) eröffneten, bevor kriminologische und rechtswissenschaftliche Zugänge in Diskussionen und Vorträgen erörtert wurden.

Sind Beziehungstaten tatsächlich dominant?

Dabei sollte zunächst geklärt werden, was genau mit situativer Gewalt eigentlich gemeint ist. Lyane Sautner, Vorständin des Insituts für Procedural Justice an der JKU Linz erklärte sie mit dem Umstand, dass dabei keine Beziehung oder soziale Nähe zwischen Täter und Opfer besteht. Gängige Beispiele: Der Überfall auf den Supermarktkassier, die Vergewaltigung im Park, der Einbruch in der Nacht. Gerade die Zufälligkeit, Spontanität und Willkür sind jene Aspekte, die dabei schwere Traumata und Belastungsstörungen bei Betroffenen hervorrufen können.

Das Problem: Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen situativer Gewalt und Gewalt im Naheverhältnis. Während bei häuslicher Gewalt die Daten der Opfer von der Polizei an das nächste Gewaltschutzzentrum weitergegeben werden, ist das im Falle von situativer Gewalt anders. Wenn keine Beziehung zwischen Tätern und Opfern besteht, etwa nach einem Raubüberfall oder einem Terroranschlag, ist zwar der Weiße Ring für die Betreuung zuständig. Dieser aber erhält keine Daten von der Polizei. Das Opfer muss sich aktiv an die Institution wenden. Wird das nicht getan, fällt man um etwaige Ansprüche auf psychosoziale Betreuung und Schadensersatz um.

Udo Jesionek, Präsident des Weißen Rings, übte daran am Dienstag Kritik – mit bewusstem Blick Richtung Justizministerin Zadić und Innenminister Karner. Bei situativer Gewalt werde oft der Datenschutz ins Treffen geführt, um zu erklären, weshalb Daten nicht weitergereicht werden könnten. Das sei „kein Argument“, betonte Jesionek. Er fordert eine Novelle des Verbrechensopfergesetz (VOG). Die wird von Zadic und Karner tatsächlich gerade vorbereitet.

Dunkelziffer viel höher

Dass eine Gleichstellung notwendig ist, zeigten die aufschlussreichen Einblicke, die Helmut Hirtenlehner, Professor am Institut für Procedural Justice JKU Linz, gewährte. Mit Verweis auf die „unzureichende“ Datenlage in Österreich, die lediglich die Anzeigenstatistik umfasse, deutet Hirtenlehner an, dass der Anteil von situativer Gewalt an der Gesamtzahl von Gewaltdelikten womöglich viel höher sei als bekannt.

Die Annahme, die sich vielfach aus der Anzeigenstatistik ableitet, lautet wie folgt: Der Großteil der Gewaltdelikte, auch in Österreich, sind Beziehungstaten, passieren also im familiären Umfeld oder im Bekanntenkreis. Das aber ist nur deshalb der Fall, weil sie in der Statistik erfasst werden. Wenn die Täter unbekannt sind, können sie folglich auch schwerer angezeigt werden. Laut repräsentativen Umfragen in Deutschland sind aber 48 Prozent aller Körperverletzungen situativ, wie Hirtenlehner betont. Die Gewalt sei damit „viel seltener ein Beziehungsdelikt, als gedacht.“ Ein Beispiel wären zwei fremde Männer, die einander im dicht gedrängten Lokal begegnen und unabsichtlich mit Bier anschütten. Entsteht daraus Gewalt, ist auch sie situativ, obwohl einander beide „kennen“.

Dass die österreichische Datenlage für die Analyse der Gewaltmotive unzureichend ist, wird im Innenministerium indirekt bestätigt. Eine verstärkte Vernetzung des Bundeskriminalamts mit der Wissenschaft in Form von Befragungen im Dunkelfeld sei „absolut“ notwendig, sagt ein Sprecher. Das werde in der strategischen Ausrichtung berücksichtigt.
Die Notwendigkeit ergibt sich umso mehr durch den Ausblick auf die Kriminalitätsstatistik 2022, die Minister Karner gewährte: Einbruchsdelikte, Cybercrime und der Kindesmissbrauch im Netz seien Trends, die man aus einer ersten Analyse ableite. Details werden im März präsentiert.

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