Der Bundeskanzler schloss in Rabat eine Vereinbarung mit Marokko, um irreguläre Migrationsströme einzudämmen und den Handel auszubauen. Das Königreich soll Österreichs Brückenkopf nach Afrika werden.
Bundeskanzler Karl Nehammer nimmt sich Zeit für Marokko – drei Tage lang. Und sein Gastgeber nimmt sich Zeit für ihn. Schon am Montagabend hatte Premierminister Aziz Akhannouch die österreichische Delegation zu einem Abendessen in seinem beindruckenden Privatanwesen in Casablanca eingeladen. An der Tafel nahmen auch Innenminister Gerhard Karner und der Generalsekretär des Außenamts, Peter Launsky-Tieffenthal, Platz – ebenso wie die Chefs von Siemens (Wolfgang Hesoun), Verbund (Michael Strugl), Mondi (Thomas Ott) und Vamed (Thomas Hinterleitner). Am Dienstag ging der politische Gesprächsreigen in der verregneten Hauptstadt Rabat weiter.
Nach einer feierlichen Kranzniederlegung am Grabmal von König Mohammed V. und König Hassan II. saßen Nehammer, Karner und Launsky-Tieffenthal am reich ornamentierten Amtsgebäude des Ministerpräsidenten noch einmal zwei Stunden mit Akhannouch zusammen, doppelt so lang wie geplant. Die österreichischen Wirtschaftsbosse schwärmten in Rabat indes zu Terminen mit marokkanischen Ministerinnen und Ministern für Industrie, Energie, Gesundheit und Investition aus.
Marokkaner stellten 8471 Asylanträge in Österreich
Nach ihrer Unterredung stellten die Regierungschefs Österreichs und Marokkos eine gemeinsame Erklärung vor – zum 240-jährigen Jubiläum der diplomatischen Beziehungen. Die zwei betonten in einem kurzen Presse-Statement, die Zusammenarbeit verstärken und auf eine neue Ebene heben zu wollen. Und Nehammer lud seinen Gastgeber und dessen Familie bei dieser Gelegenheit zu einem Gegenbesuch in Wien ein.
Beide Seiten feilten bis zur letzten Minute am Text der Vereinbarung. Eine vergleichbare Übereinkunft hat das Königreich bisher lediglich mit dem Nachbarland Spanien geschlossen. Sie ruht im Wesentlichen auf zwei Säulen – der Sicherheit und der Wirtschaft. Für Nehammer und Karner war neben der Terrorbekämpfung das Migrationsthema besonders wichtig, auch innenpolitisch. Im Vorjahr haben 8471 Marokkaner Asylanträge gestellt, ohne freilich eine realistische Chance auf Anerkennung zu haben. Die meisten zogen weiter – vorwiegend nach Frankreich, Spanien oder Deutschland. Nur 200 bis 300 verblieben in der österreichischen Grundversorgung. Österreich ist für marokkanische Migranten inzwischen das wichtigste Erst-Zielland in der Schengen-Zone, bevor sie untertauchen und weiterreisen. Die Route der Marokkaner sieht nach Auskunft von Innenminister Karner so aus: Mit dem Flugzeug visafrei nach Istanbul, von dort mit Schleppern über Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich.
Rückführung von Häftlingen vereinbart
Der neuen Vereinbarung zufolge wollen Marokko und Österreich das Migrationsaufkommen künftig einmal pro Monat auf Botschafterebene unter die Lupe nehmen. Bei Schwierigkeiten sollen sich die Innenminister einschalten. Paraphiert wurde zudem die gegenseitige Verpflichtung, inhaftierte Staatsbürger in die jeweilige Heimat zurückzuholen. Derzeit sitzen 59 Marokkaner in österreichischen Gefängnissen.
Das Rückführungsabkommen für irreguläre Migranten, die keinen Asylstatus erhalten, handelt die EU mit der Regierung in Rabat aus – seit Jahren schon. Österreich will nun jedoch bilateral vorankommen. In der Hauptstadt führte Karner Gespräche mit seinem marokkanischen Amtskollegen Abdelouafi Laftit. Außergewöhnlich sei ein derartiges Treffen und ein Zeichen des Vertrauens, hieß es in der österreichischen Delegation. Üblicherweise nehme sich der marokkanische Innenminister höchstens Zeit für Repräsentanten aus Spanien oder Belgien.
Österreich will Fürsprecher Marokkos in der EU sein
Nehammer verfolgte in Marokko einen multidimensionalen Ansatz, der über die Migrationsfrage hinausgeht. Nordafrika sei ein geostrategisch wichtiger Partner – mit wirtschaftlich großem Potenzial, sagte er. Dahinter steckt auch eine Diversifizierungsstrategie. Das ist eine der Lektionen der Energieabhängigkeit von Russland. Die Bundesregierung will bei der Suche nach neuen Märkten behilflich sein – in Asien, Lateinamerika und Afrika. In naher Zukunft will der Bundeskanzler zu einer größeren Afrika-Reise aufbrechen. Auch da kann Marokko eine Rolle spielen: Denn es positioniert sich als Investitionsplattform für den gesamten Kontinent.
Umgekehrt bot sich Nehammer dem Königreich als Brückenbauer in der EU an, auch als Drehscheibe für marokkanische Afrika-Expertise. Dem Neutralitätsstatus könne dabei ein besonderer Stellenwert zukommen, meinte er danach.
Hoffnungsträger für grünen Wasserstoff
2021 erreichte Österreichs Handelsvolumen mit dem 36-Millionen-Einwohnerstaat Marokko mehr als 366 Millionen Euro, etwas weniger als ein Zehntel des Gesamtvolumens mit Afrika. Da gibt es noch Luft nach oben. Vor allem bei grünem Wasserstoff, der mit erneuerbarer Energie gewonnen wird, soll das Königreich ein Lieferant werden. Marokko sei ein Hoffnungsträger für erneuerbare Energien, sagte Nehammer in seinem Presse-Statement.
Fragen waren nicht zugelassen. So musste Ministerpräsident Akhannouch nicht zur marokkanischen Tangente in Katar-Gate Stellung nehmen. Nicht nur Katar, sondern auch Marokko soll Abgeordnete des Europaparlaments bestochen haben, um gute Stimmung in der EU zu machen.
Schwenk in Westsahara-Frage
Marokko nutzte den Migrations- und Wirtschaftshebel in den Verhandlungen mit Österreich geschickt, um auch politische Zugeständnisse in der Westsahara-Frage zu erzielen. Nach dem Abzug der Spanier 1975 besetzte Marokko das rohstoffreiche Gebiet an der Atlantikküste – und seither wogt der Konflikt hin und her. Das Nachbarland Algerien unterstützt die Unabhängigkeitsbewegung der Westsahara (Polisario). Spanien indes vollzog, auch unter marokkanischem Migrationsdruck, im Vorjahr eine Kehrtwende. Es sprach sich auf einmal für die von Marokko stets propagierte Autonomielösung aus. Auch Österreich tendiert nun ebenso wie etwa die Niederlande in diese Richtung der Autonomie, beharrt jedoch darauf, dass es einen von der UNO moderierten Prozess geben muss, an dessen Ende eine Volksabstimmung stehen soll. „Österreich betrachtet den Autonomieplan, den Marokko 2007 vorgestellt hat, als ernsthaften und glaubwürdigen Beitrag zum UN-geführten politischen Prozess“, heißt es in der gemeinsamen österreichisch-marokkanischen Erklärung.