Proteste und Streik

Netanyahu verschiebt umstrittene Justizreform

Die Proteste in Israel gegen die Justizreform der Regierung nahmen am Montag nach der Entlassung des Justizministers zu - hier eine Luftaufnahme aus Jerusalem.
Die Proteste in Israel gegen die Justizreform der Regierung nahmen am Montag nach der Entlassung des Justizministers zu - hier eine Luftaufnahme aus Jerusalem.REUTERS
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Das Gesetzesvorhaben soll frühestens Ende April im Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden. Ministerpräsident Netanjahu warnt zudem vor einem Bürgerkrieg. Indes lassen Streiks das Land still stehen.

In Israel herrscht der Ausnahmezustand. Die Krise um die geplante Justizreform der Regierung eskaliert inzwischen nicht mehr täglich, sondern nahezu stündlich. Nachdem Verteidigungsminister Yoav Gallant am Samstagabend für einen Stopp der umstrittenen Reform plädiert hatte, verkündete Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Sonntag Gallants Rauswurf. In der Folge strömten Tausende Menschen in Tel Aviv und anderen Städten zu Protesten auf die Straße, die bis heute anhalten. Nun kündigte Netanjahu einen vorübergehenden Stopp der umstrittenen Justizreform an.

"Ich habe entschieden, die zweite und dritte Lesung in dieser Sitzungsperiode auszusetzen", sagte Netanjahu am Montag in Jerusalem. Das Gesetzesvorhaben wird damit frühestens Ende April im Parlament zur Abstimmung vorgelegt. "Wir befinden uns mitten in einer Krise, die unsere essenzielle Einheit gefährdet", sagte Netanjahu. Er warnte vor einem Bürgerkrieg, zu dem es nicht kommen dürfe. "Alle müssten verantwortlich handeln", sagte er. Deshalb strecke er seine Hand zum Dialog aus.

Zuvor hatte Netanjahu auf Twitter angesichts massiver Proteste zur Einheit und gegen Gewalt aufgerufen. "Ich rufe alle Demonstranten in Jerusalem, von rechts und von links, dazu auf, verantwortlich zu handeln und keine Gewalt anzuwenden. Wir sind Brüder", schrieb Netanjahu am Montag.

Großer Streiktag: Flughäfen, Häfen, Restaurants, Botschaften geschlossen

In einem beispiellosen Schritt hat der Dachverband der Gewerkschaften heute zu einem spontanen Generalstreik aufgerufen. Selbst der internationale Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv wird bestreikt: Kein Flugzeug hebt dort ab. Die wichtigsten Seehäfen wie Haifa und Ashdod sowie Krankenhäuser kündigten Arbeitsniederlegungen im Tagesverlauf an. Selbst bei McDonald's sollen die Grillplatten und Fritteusen am Montag kalt bleiben. Auch in der israelischen Botschaft in Washington wird gestreikt - die Diplomaten legten am Montag ihre Arbeit nieder. Und Staatspräsident Yitzhak Herzog hielt am Morgen eine außergewöhnliche Ansprache.

“Ich wende mich an den Ministerpräsidenten, an die Mitglieder der Regierung und die Mitglieder der Koalition”, sagte er. „Die ganze Nation wird von tiefer Sorge geplagt. Unsere Sicherheit, Wirtschaft, Gesellschaft – all das ist bedroht. Das ganze Volk Israel schaut auf Sie. Das ganze jüdische Volk schaut auf Sie. Die ganze Welt schaut auf Sie. Zugunsten der Einigkeit des Volkes Israel und der notwendigen Verantwortung fordere ich Sie auf, das Gesetzgebungsverfahren unverzüglich zu unterbrechen.“

Die Polizei in Jerusalem ist im Großeinsatz.
Die Polizei in Jerusalem ist im Großeinsatz.(c) REUTERS (AMMAR AWAD)

Rechtsparteien befürworten Justizreform, eine Absage könnte Netanjahus Koalition belasten

Für die gleiche Forderung hatte Netanjahu seinen Verteidigungsminister abgesetzt. Die Anzeichen, dass der Ministerpräsident nachgeben und die Reform auf Eis legen könnte, häuften sich im Vorfeld der Entscheidung. Die Vorsitzenden der beiden ultraorthodoxen Parteien, die seiner Koalition angehören, kündigten an, ihn bei einem solchen Schritt zu unterstützen. Finanzminister Bezalel Smotrich, Chef der ultrarechten Partei Religiöser Zionismus und einer der stärksten Befürworter der Reform, hat signalisiert, er werde – entgegen vieler Erwartungen – in einem solchen Fall nicht zurücktreten. Und selbst Justizminister Yariv Levin, der als einer der Architekten der Reform gilt, hat verkündet, jede Entscheidung Netanjahus zu respektieren.

Allein der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, drohte mit Rücktritt. Sollte er seine Partei Jüdische Stärke aus der Koalition zurückziehen, wäre die Regierung ihrer Mehrheit beraubt. Die Regierung dürfe nicht "vor der Anarchie kapitulieren", twitterte er am Montag. Kurz darauf hieß es, Netanjahu verschiebe seine Erklärung. Der Sender Kan berichtete, Netanjahu habe den Spitzen der Koalition mitgeteilt, dass er die Reform aufschieben wolle.

Am Montagabend hieß es, Ben-Gvir habe sich auf eine Verschiebung mit Netanjahu verständigt. Im Gegenzug soll eine "Nationalgarde" unter der Führung des rechtsextremen Politikers eingerichtet werden. Was dies konkret bedeutet, war zunächst nicht klar. Medienberichten zufolge waren Ben-Gvir und Netanjahu zuvor zu einer Krisensitzung zusammengekommen, in der Ben-Gvir mit seinem Rücktritt gedroht haben soll, sollte Netanyahu nicht an den Reformplänen festhalten.

Für Koalitionspartner steht viel auf dem Spiel

Manche Analysten zweifelten daran, dass es zu einem Bruch der Koalition kommen würde. „Netanjahus Koalition wird wahrscheinlich intakt bleiben“, schrieb Anshell Pfeffer, ein bekannter Politjournalist von der linksliberalen Zeitung Haaretz. Netanjahus politische „Partner lieben ihre neuen Ministerien und geben sie nicht so schnell auf. Aber Netanjahus Image als politischer Magier, der ihre Wünsche erfüllen kann, ist zerstört worden.“

Die Justizreform

Die Regierung steht so weit rechts wie wenig andere in der Geschichte Israels. Bei der Parlamentswahl Anfang November war der von Netanjahu angeführte Block auf 64 der 120 Sitze im Parlament gekommen. Netanjahu hatte zunächst eine schnelle Regierungsbildung angekündigt, tatsächlich gelang ihm das aber erst Wochen später und nur wenige Minuten vor Ablauf einer Fristverlängerung. Kritiker warfen ihm schon damals vor, sich anfällig für die Forderungen seiner extremen Verbündeten gemacht zu haben. Beobachtern zufolge ist mit der Allianz auch eine Zwei-Staaten-Lösung zur Beendigung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern in weite Ferne gerückt.Im Mittelpunkt der Reform steht das Verfahren zur Auswahl der Richter. Die Regierung will ihren Einfluss dabei stärken und die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs einschränken. Sie begründet dies mit dem Vorwurf, Richter hätten sich in die Politik eingemischt. Kritiker werfen der Regierung aus Konservativen, religiösen Fundamentalisten und ultrarechten Nationalisten dagegen vor, die Unabhängigkeit der Justiz einschränken zu wollen. Nach ihrer Darstellung steht die Demokratie auf dem Spiel.

Ein neuer Vorschlag sieht zufolge vor, dass die Regierung zwei Richter des Obersten Gerichts selbst auswählen kann. Anders als in einem vorherigen Entwurf müssen jedoch andere Ernennungen des dann elfköpfigen Gremiums von mindestens einem Oppositionsmitglied und mindestens einem Richter gebilligt werden.

(Mareike Enghusen / Ag.)

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