Alles, was zu lieblich und nett war, ist berechtigterweise rausgeflogen. Nur um die Niederlande ist es ein bisschen schade! Und: Warum Israel einen Refrain und Aserbaidschan einen Bass-Gurt braucht.
Ein gemäßigter Auftakt mit erwarteten Favoriten-Aufstiegen war das am Dienstag im ersten Song-Contest-Halbfinales in Liverpool. Kann Loreen im Finale ihren Sieg von 2012 wiederholen?
Die Songs in der Einzelkritik.
Norwegen (Startnummer 1, im Finale)
Alessandra: Queen of Kings
Dramaturgisch war Alessandra ein klug gewählten Startpunkt für die Show. Die norwegische Sängerin bewies in ihrer Wikingerhymne mit Techno-Elementen, dass sie ihre Stimme bestens im Griff hat. Die schnellen Tonwechsel (stets untermalt von einer Flötenfolklore-Linie) bewältigte sie souverän. Und zum Drüberstreuen ließ sie noch ein paar Whistlenotes á la Mariah Carey hören - eher zum Angeben. Pfeifregister sagt man auch dazu, das sind diese wahnsinnig hohen Töne. Für die Wirkung des Liedes war das aber irrelevant. Der hymnisch-nordische Charakter des Lieds geht jedenfalls ins Ohr, ist tanzbar, bleibt aber dann doch etwas beliebig, trotz Empowerment-Botschaft.
Malta (2, ausgeschieden)
The Busker: Dance (Our Own Party)
Malta schickte eine nette Pop-Nummer ins Rennen, samt gefälliger Saxofon-Hook und Michael-Jackson-Socken. Aber der Groove hib nie richtig ab und Choreo und Lässigkeit wirken etwas zu gewollt. Da helfen auch die Glitzerpullis nicht. Sänger Jean Paul musste sich gesanglich nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen, wirkte auf der großen ESC-Bühne trotz gekonnt fürs TV inszenierter Bilder-Story etwas unentspannt.
Serbien (3, im Finale)
Luke Black: Samo Mi Se Spava
„Ich will einfach nur schlafen“, lautet die Übersetzung des Songtitels des serbischen Beitrags. Es ist eines dieser ESC-Kunstwerke zwischen Genie und Wahnsinn. Für Freunde der gepflegten Melodie oder eines üblichen Song-Schemas gab es hier wenig zu entdecken. Die Elektro-Hook (wiedererkehrende, refrain-ähnliche Melodie) ist durchaus eingängig, der Beat-Drop tanzbar, die Ghostbusters-Show ansehnlich. Insgesamt fehlte dann aber der musikalische Faktor in der Sache.
Lettland (4, ausgeschieden)
Sudden Lights: Aijā
Ein Lied wie eine etwas zu brav geratene Muse-Komposition. Über den etwas hektischen Drummachine-Beat legten sich wabernde Gitarrensounds und leicht verzerrte Bässe und ein Coldplay-artig zwischen Falsett und Bruststimme mäandernder Gesang. Während das Lied auf Youtube noch eine gewisse Intimität ausgestrahlt hat, ging die Bühnenshow der drei jungen Herren aus Lettland etwas ins Leere und war noch am besten, als nur Akustikgitarre und Gesang das Lied begleiteten.
Portugal (5, im Finale)
Mimicat: Ai Coração
Freunde des gepflegten chason-ähnlichen Vibratos - das sind diese „Wackler“ in der Stimme, die in der Oper etwa ins Extrem genutzt werden - kamen bei Portugal auf ihre Kosten. Das Lied „Ach, Herz“ erinnerte allerdings etwas an die Auftaktnummer eines mitteloriginellen Musicals über ein portugiesisches Revue-Theater. Das mag an dem Federkleid von Sängerin Mimicat gelegen haben, aber auch an der etwas zu braven Choreografie. Man wünschte sich, die Lebensfreude des Songs wäre etwas lockerer umgesetzt worden. Gesanglich gab es wenig auszusetzen, spannend zum Zuhören, sauberer Power-Ton gegen Ende - und im Saal gab es offenbar gute Stimme und Gelegenheit zum Mitklatschen.
Irland (6, ausgeschieden)
Wild Youth: We Are One
Irgendwo zwischen „Heroes“ von Måns Zelmerlöw, Coldplay und U2-Blütezeit (die Gitarre in der zweiten Strophe!) präsentierte sich das Herrentrio aus Irland - mit schöner Happy-Song-Contest-Message: „Tonight we are one“. Sänger Conor O’Donohoe machte erstaunlich oft Pause und verließ sich auf die Kollegen und den Chor. Der Mitklatsch-Acapella-Teil zum Schluss sorgte noch einmal für ordentlich Stimmung. Fürs Finale hätte es ein bisserl mehr Pep gebraucht und einen ein bisschen motivierteren Leadsänger.
Kroatien (7, im Finale)
Let 3: Mama ŠČ!
„Mama kauft einen Traktor“ - darüber wird auf jeden Fall gesprochen. Das mit kinderlied-ähnlicher Melodie beginnende Lied wandelt sich zu schnellen Beats, die wie aneinander geschnipselt wirken. Die „Diktatoren" in bodenlangen, rosa Mäntel bringen Putin-Anspielungen („Psychopath") trotz Politik-Verbots zum Song Contest - inklusive Striptease zum Feinripp-Finale. Als Gesamtkunstwerk ist „Mama ŠČ!“ jedenfalls ein Platz in den Song-Contest-Geschichtsbüchern sicher. Musikalisch gab's da nicht viel zu holen.
Schweiz (8, im Finale)
Remo Forrer: Watergun
Wenn die Strophe schon so tief (zu tief?) anfing, war absehbar, wohin es Remo Forrer in seiner von Contemporary-Tänzern begleiteten Performance zog: in die Oktave darüber, in die lichten Pop-Tenor-Höhen. Und dabei brachte Forrer durchaus interessante Stimmfarbe mit - samt vernachlässigter Artikulation des Textes. Ganz konnte sich das Lied gegen Ende dann aber nicht entscheiden: Großer Beatdrop? Große Stimmakrobatik? Intimer letzter Refrain, aufgehender Refrain? Da war in 20 Sekunden alles dabei.
Israel (9, im Finale)
Noa Kirel: Unicorn
Wenn wir schon von Songstruktur reden: Was war da los, Israel? Einen guten Song so ohne Refrain stehenzulassen? Dort wo Noa Kirel durchaus gefällig und sicher ihr „Unicorn“ in die Welt hinausrief, folgt in Pop-Songs gerne noch ein eingängiger Teil mit einer zumindest instrumentalen Hookline. Der fehlt hier. Dafür gab's ein paar Rap-Einsprengsel und eine ziemlich beeindruckende Tanzeinlage in der letzten halben Minute. Danach blieb Noa Kirel ohnehin keine Luft mehr für Singen.
Moldau (10, im Finale)
Pasha Parfeni: Soarele şi Luna
Die Song-Contest-Tradition der Trommler auf der Bühne hakte dieses Jahr der moldauische Beitrag ab. Song-Contest-Wiederholungstäter Pasha Parfeni hatte auch die Ethno-Flöte mit dabei. Vielleicht wenig innovativ, doch Pafreni performte mit Energie und Freude und guter Stimme. Und Tanzen und Mitsingen kann man bei „Soarele şi Luna“ auch.
Schweden (11, im Finale)
Loreen: Tattoo
An „Euphoria“ (Sieg 2011) kommt „Tattoo“ bei Weitem nicht heran. Was nicht heißt, dass Loreen an Aura und Kraft verloren hätte. Gekonnt räkelte sie sich im resten Halbfinale zwischen zwei Videoscreen-Blöcken - mit bekannt ausdrucksstarker Stimme und Waldkreaturen-Tanz. Rasch wechselnd zwischen hauchigen und lauten Tönen hatte sie stets alles im Griff, schraubte die Töne stets auf die richtige Tonhöhe, trotz der stets von unten hinaufschleifenden Melodietöne im Refrain. Vielleicht ist es die Erwartbarkeit dieser Art der Performance, die ihr heuer den Sieg kosten könnte. Oder, dass man einfach jemandem anderen auch einmal den Sieg gönnt.
Aserbaidschan (12, ausgeschieden)
TuralTuranX: Tell Me More
Zwillinge beim Song Contest. Da können wir auch schon auf einige Geschichten zurückblicken. Bei den ersten Tönen von Tural und Turan kamen klangliche Assoziationen zu den siegreichen dänischen Olssen-Brüdern aus dem Jahr 2000 auf, die allerdings keine Zwillinge waren. Der Song blieb aber etwas blass und langweilig. Und der Zwilling am Bass musste noch dazu mit einem gerissenen Instrumentengurt kämpfen, blieb seinem Instrument aber trotz Panne souverän treu. Insgesamt eine etwas zu kitschige Sache ohne Authentizität.
Tschechien (13, im Finale)
Vesna: My Sister's Crown
Stimmlich blieben die Damen mit der Zopfakrobatik in den Solo-Stellen etwas zurückhaltend. Tschechien lieferte aber einen gut inszenierten Empowerment-Song, der am stärksten war, wenn die sechs auf der Bühne agierenden Damen (nur drei davon sangen) aus der starren Choreo ausbrechen durften. Melodisch bleibt da allerdings nicht viel hängen.
Niederlande (14, ausgeschieden)
Mia Nicolai & Dion Cooper: Burning Daylight
Die Niederlande kümmern sich auch heuer wieder um schönen Pop erster Güteklasse. Mehr Duette braucht die ESC-Welt. Dion Cooper schwang sich zu Beginn in lichte Falsett-Höhen, Bühnenkollegin Mia Nicolai machte es ihm in luftigem Timbre nach. Die zurückhaltende Inszenierung auf einer drehenden Plattform im Glitzernadelstreif mit Licht hatte aber nicht ausreichend für Funkensprung ins Publikum gesorgt. Insgesamt dann vielleicht doch zu nett für einen Finalplatz.
Finnland (15, im Finale)
Käärijä: Cha Cha Cha
Er gilt als der große Loreen-Herausforderer in diesem Jahr. Wenn es um Mainstream-Radiotauglichkeit geht, ist er seiner schwedischen Konkurrentin wohl unterlegen. Käärjä bedient da eher eine andere Ecke des Song Contests. Wobei: Welche Ecke genau? Exzentrische grüne Ärmel, harte Beats, Hundehalsband, Zungenprojektion, ein (mitgezähltes) „Cha Cha Cha Cha Cha Cha Cha“ zum Mitgrölen sind die Basis des Erfolgs. Und irgendwann wird die harte Rammstein-Sache dann zu einer Art Vengaboys-Nummer. Das muss man nicht verstehen, außer man hat schon jahrelang Song Contest gesehen, dann zuckt man maximal kurz mit den Schultern und lächelt milde.