Sowohl Amtsinhaber Erdoğan als auch Herausforderer Kılıçdaroğlu bleiben unter 50 Prozent. Für beide Kandidaten eine Niederlage. Auch Herausforderer Kılıçdaroğlu hatte auf einen Sieg in der ersten Runde gehofft.
Die Entscheidung über die politische Zukunft des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wird in einer Stichwahl am 28. Mai fallen. Erdoğan lag nach der Wahl am Sonntag zwar vor Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu, aber unter der Marke von 50 Prozent der Stimmen, die er für einen Sieg in der ersten Runde gebraucht hätte. Bei der gleichzeitigen Parlamentswahl erlitt Erdoğans Regierungsbündnis zwar Verluste, konnte seine Mehrheit in der Volksvertretung aber behaupten.
Erdoğan kommt nach Auszählungen von 99 Prozent der Stimmen auf 49,4 Prozent, wie der Leiter der Wahlbehörde, Ahmet Yener, mitteilte. Kılıçdaroğlu folgt demnach mit 44,96 Prozent. Auf den dritten Kandidaten im Rennen um die Präsidentschaft, den Rechtsnationalisten Sinan Oğan, fielen 5,2 Prozent der Stimmen. Bei der letzten Wahl 2018 hatte Erdoğan mit 52,6 Prozent im ersten Wahlgang gesiegt.
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AKP-Allianz verfehlt im Parlament knapp die Mehrheit
Bei der Parlamentswahl verfehlte die Regierungsallianz unter Führung von Erdoğans Partei AKP laut Anadolu mit 49,3 Prozent der Stimmen knapp die Mehrheit. Das Bündnis um Kilicdaroglu kommt demnach nur auf 35,1 Prozent der Stimmen. Selbst mit der Unterstützung der Allianz um die prokurdische HDP (10,5 Prozent) kämen sie nicht auf eine absolute Mehrheit. Die AKP hätte demnach im Vergleich zu 2018 rund sechs Prozentpunkte verloren.
Erdoğan und die AKP büßten Stimmen in Istanbul und Ankara sowie in südlichen Provinzen wie Antalya, im kurdischen Südosten und im Nordosten ein. Erdogan sah sich bei der Präsidentenwahl "mit Abstand vorne". Bis die vorläufigen Ergebnisse veröffentlicht werden, werde es aber noch einige Zeit brauchen, sagte er in der Nacht auf Montag vor jubelnden Anhängern in Ankara. "Den Willen des Volkes muss jeder respektieren", sagte er weiter.
Doch die Opposition hat trotzdem ihre wichtigsten Ziele verfehlt. Kılıçdaroğlu hatte auf einen Sieg in der ersten Runde gehofft. Er trat in der Nacht gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechser-Wahlbündnisses vor die Presse. "Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte", sagte er. Die Opposition werde gewinnen und dem Land Demokratie bringen.
Streit um Auszählungsmodalitäten
Die Opposition warf der Agentur Anadolu und Erdoğans Regierungspartei AKP vor, Abstimmungsergebnisse zurückzuhalten, um Kılıçdaroğlus Stimmenanteil niedriger erscheinen zu lassen. Besonders in den großen Städten, bei denen die Opposition besonders stark war, wurden die Ergebnisse erst spät veröffentlicht. Die AKP wies den Vorwurf von Unregelmäßigkeiten zurück.
AKP-Sprecher Ömer Celik warf der CHP Sabotage vor. Der Bürgermeister von Istanbul, der CHP-Politiker Ekrem İmamoğlu beschuldigte hingegen staatliche Stellen, falsche vorläufige Zahlen zu verbreiten, die die Werte von Amtsträger Recep Tayyip Erdoğan schönten. Beide Seiten hatten jeweils behauptet, sich bei den Abstimmungen vorn zu sehen.
Kılıçdaroğlu rief sein Anhänger dazu auf, bis zum Ende der Auszählung bei den Wahlurnen zu bleiben. "Verlasst die Urnen und die Wahlkommissionen niemals", sagte er in der Nacht zu Montag in Ankara. "Wir bleiben hier, bis jede Stimme ausgezählt ist."
Harter Wahlkampf wartet
In den zwei Wochen bis zur Stichwahl steht der Türkei ein harter Wahlkampf bevor. Erdoğan hatte Kılıçdaroğlu und der Opposition in den letzten Tagen vor der Wahl vom Sonntag vorgeworfen, mit der kurdischen Terrororganisation PKK zusammenzuarbeiten. Die Opposition hält dem Präsidenten und der Regierung ein Versagen in der Wirtschaftspolitik, die Unterdrückung Andersdenkender und Korruption vor.
Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz könnte bei der Stichwahl eine wichtige Rolle zukommen, sollte er eine Wahlempfehlung abgeben. Ogan wertete daher sein schwaches Abschneiden (rund 5,3 Prozent) als Erfolg. Mit seinen Anhängern will er nun beraten. "Wir werden niemals zulassen, dass die Türkei in eine Krise gerät", sagte Ogan in der Nacht auf Montag.
Erdoğan hatte 2017 ein Präsidialsystem durchgesetzt, das ihm große Machtbefugnisse verlieh. Kılıçdaroğlu will dieses System wieder abschaffen und zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren. Auch in der Wirtschafts- und Außenpolitik würde sich bei einem Ende der Ära Erdoğan einiges ändern. Kılıçdaroğlu hat angekündigt, er werde die Grundrechte stärken und die Beziehungen der Türkei zum Westen wieder verbessern, die seit Jahren in einer Dauerkrise stecken.