Zeugnisse weiblicher Ermächtigung in allen Genres: „Barbie“ im Kino, „Frauenzimmer“ im Theater, neue Chefredakteurinnen und etliche Künstlerinnenpersonalen. Und über einen Nobelpreis? Freuten wir uns natürlich auch.
Theater
Gold: VON EINEM FRAUENZIMMER. Femizid im Sturm und Drang: Erfolgreiche Uraufführung eines 245 Jahre alten Stücks von Christiane Karoline Schlegel am Schauspielhaus Graz.
Silber: KASMIR UND KAROLINE. Besser als im Burgtheater: Eine radikal stille und karge Horváth-Inszenierung in St. Pölten.
Bronze: PUBLIKUMSBESCHIMPFUNG. Mit Kreisky wird aus Handke Punk: Das Wiener Rabenhoftheater hat gezeigt, wie man den Avantgarde-Klassiker heute aufführen kann.
Urgestein: CLAUS PEYMANN. Mit 86 Jahren das erste Mal „Warten auf Godot“ inszeniert: Großer, gewitzter, sprachgewaltiger Existenzzirkus im Theater in der Josefstadt.
Heißes Eisen: JEDERMANN. Die Absetzung von Sturmingers prätentiöser Klimakriseninszenierung war künstlerisch verständlich, wurde aber ziemlich ungeschickt kommuniziert.
Oper
Gold: SCHWANDA, DER DUDELSACKPFEIFER. Rückkehr eines Erfolgsstücks der gemäßigten Moderne im Museumsquartier. Ein Neustart für Komponist Jaromir Weinberger?
Silber: GRIECHISCHE PASSION. Der echte, tiefe Erfolg in Salzburg war ebenfalls einem Werk der gemäßigten Moderne vorbehalten: Bohuslav Martinus Flüchtlingsdrama bewegt.
Bronze: GÖTTERDÄMMERUNG. Die Oper Klagenfurt stemmt den „Ring“ – und weist am Ende auf den Anfang: Rheingold forever!
Urgestein: ANNA NETREBKO. Diva trotz aller Anfeindungen. Umjubelt in Wien und Mailand, zuletzt nach ihrer Arie in „Don Carlos“.
Heißes Eisen: TURANDOT. Im Psycho-Stil an der Staatsoper: Regisseursselbstdarstellung bringt eine Generation um die Chance, Hauptwerke unverfälscht kennenzulernen.
Literatur
Gold: LICHTSPIEL. Wie leicht werden wir von Gegnern eines Systems zu Mitläufern? Daniel Kehlmann zeigt es anhand des Schicksals von Filmregisseur G. W. Pabst in der NS-Zeit.
Silber: BETRUG. Zadie Smith findet im 19. Jh. Verwandte zu heutigen „Querdenkern“ und anderen sozialen Bewegungen: Virtuos.
Bronze: DER GANZ GEMEINE LUMPFISCH. Nachdenken über Artensterben, von Ned Beauman verpackt in den vielleicht originellsten und witzigsten Roman des Jahres.
Urgestein: THE SHARDS. Bret Easton Ellis’ furioses Comeback nach 13 Jahren Romanpause: Der „American Psycho“-Autor erzählt von reichen Jugendlichen in Los Angeles.
Heißes Eisen: ECHTZEITALTER. Wirklich den Deutschen Buchpreis wert? Tonio Schachingers Roman inspiriert vom „Theresianum“.
Film
Gold: BARBENHEIMER. Der PR-Coup des Jahres pushte Greta Gerwigs Puppenposse „Barbie“ und Christopher Nolans Nukleardrama „Oppenheimer“ in den Kino-Olymp. Das Erstaunliche daran: Beide Filme waren gut.
Silber: CLUB ZERO. Jessica Hausners gallige Ideologiesatire inthronisierte sie als neue Galionsfigur von Kunstkino made in Austria.
Bronze: LA CHIMERA. Was einen Kinofilm von Streaming-Dutzendware unterscheidet, zeigte Alice Rohrwachers Toskana-Ballade.
Urgestein: MARTIN SCORSESE. Von schnöder Altersmüdigkeit keine Spur: Mit „Killers of the Flower Moon“ legte der 81-jährige Meisterregisseur eines seiner stärksten Werke vor.
Heißes Eisen: KURZ IM FILM. Wie viele Filme über Ex-Kanzler Kurz liefen heuer im Kino? Drei? Dreißig? Cui bono? Und wer hat sie gesehen? Darüber ließ sich 2023 super streiten.
Klassik
Gold: MARKUS POSCHNER. Seine Gesamtaufnahme aller Fassungen von Bruckners Symphonien enthält packende Livekonzerte.
Silber: AUGUSTIN HADELICH. Spielt sich in die erste Reihe der internationalen Violinvirtuosen, u. a. mit einer anrührenden Interpretation des Konzerts von Alban Berg.
Bronze: MARTHA ARGERICH. Zeigte zuletzt mit Kammermusik im Musikverein ihre ungebrochene pianistische Souveränität.
Urgestein: HINDEMITH. Antoine Tamestit und die Staatskapelle Dresden unter Thielemann erinnerten mit dem „Schwanendreher“ an einen unterschätzten Meister der Moderne.
Heißes Eisen: JUBILÄUMSARMUT. Gedenktage werden nicht zum Aufforsten genutzt. 2024 gibt es sicher viel Schönberg, wenig Franz Schmidt. Und Julius Bittner? (Alle Jg. 1874.)
Wissenschaft
Gold: NOBELPREIS. Meister der kürzesten Zeiten: Physiker Ferenc Krausz, der lang an der TU Wien geforscht hat, wurde in Stockholm geehrt. Freude im Uni-Universum!
Silber: ABNEHMSPRITZE. Ein Stoff, der ein Sättigungshormon nachahmt – und damit Heißhunger bremst: Biochemie, die helfen könnte, die Epidemie Fettsucht zu bekämpfen.
Bronze: MINIHERZ. Forscher am Wiener IMP schufen ein Modell aus Stammzellen, das in der Petrischale pocht. Aufregend.
Urgestein: ANTIMATERIE. Sie erwies sich wieder einmal in Experimenten als normaler, als sie sich theoretische Physiker erträumen.
Heißes Eisen: SUPRALEITUNG-FAKE. Koreanische Forscher wollten uns einreden, sie hätten Supraleitung bei Raumtemperatur nachgewiesen. Hätten sie gern.
Serie
Gold: THE BEAR. Konnte diese feine Serie (auf Disney+) über den Irrsinn in einer Chicagoer Restaurantküche noch köstlicher werden? Staffel zwei zeigte heuer: Yes, chef!
Silber: DEADLOCH. Derber feministischer Spaß und zugleich ausgeklügelter Krimi ist dieses australische Kleinod (Amazon).
Bronze: THE NIGHT AGENT. Der fesselnde Agententhriller mauserte sich zur heuer meistgestreamten Netflix-Serie.
Urgestein: THE CROWN. Nach sechs Staffeln ist die royale Seifenoper mit gewohnt fantasievollen Ausschmückungen zu Ende gegangen: Nicht schlimm.
Heißes Eisen: SQUID GAME: THE CHALLENGE. Aus dem gehypten koreanischen Serienhit von 2021 – über grausame Kinderspiele – machte Netflix eine Realityshow. Die war menschenverachtend wie das Vorbild.
Pop
Gold: ROLLING STONES. Urgestein? Vielleicht. Aber diese Überlebenden aus dem Rock-Neolithikum zeigten sich mit dem Album „Hackney Diamonds“ sehr frisch.
Silber: ANOHNI AND THE JOHNSONS. Transgeschlechtlich, transzendent: Dieser innige Soul erhebt sich übers Irdische, sagt: „It must change“ und fragt: „Why am I alive?“
Bronze: LANA DEL REY. Diese Frau kennt alle dunklen Geheimnisse Kaliforniens. Und betört unsere Herzen und Stirnhirne damit.
Urgestein: TAYLOR SWIFT. Gold? Nur mit alten Alben geht das nicht. Aber diese Vertreterin der (guten) Pop-Normalität war überall.
Heißes Eisen: RAMMSTEIN. Auch wenn die Missbrauchsvorwürfe nicht bestätigt werden konnten, Till Lindemanns machistische „Aftershow-Partys“ waren letztklassig.
Medien und TV
Gold: SCHNEE. Alpine Thrillerserie in Starbesetzung (u. a. Brigitte Hobmeier). Mehrheitlich von Frauen erdacht und realisiert. Aus weiblicher Perspektive erzählt. Cool.
Silber: FRAUENPOWER. Maria Scholl (APA), Anna Thalhammer („Profil“), Gabriele Waldner (ORF) wurden Chefredakteurinnen.
Bronze: BYE-BYE. 35 Jahre Thomas Gottschalk bei „Wetten, dass..?“, 30 Jahre Vera Russwurms Show und 16 Jahre Debattenkultur bei Anne Will gingen zu Ende.
Urgestein: WIENER ZEITUNG. 1703 gegründet, ist die bis dahin älteste Tageszeitung der Welt am 30. Juni zum letzten Mal gedruckt erschienen. 65 Mitarbeiter verloren ihre Jobs.
Heißes Eisen: MEDIENPOLITIK. Die Regierung habe zu viel Einfluss auf ORF-Gremien, sagt der VfGH. Das Gesetz muss repariert werden.
Bildende Kunst
Gold: VERMEER. Der älteste Alte Meister, der 2023 gefeiert wurde, die Schau in Amsterdam war beeindruckend. Es folgten: Frans Hals (London), Caspar D. Friedrich (Hamburg).
Silber: KLIMTS EINFLÜSSE. Das Belvedere beging sein 300-Jahr-Jubiläum gebührend mit einer epochalen Klimt-Ausstellung.
Bronze: FRAUEN. Kiki Kogelnik (BA-Kunstforum), Valie Export (Albertina), Bourgeois und Bertlmann (Belvedere). Stark.
Urgestein: ANSELM KIEFER. Mit 78 hat der deutsche Starkünstler sichtlich nicht vor, leiser- oder gar kleinerzutreten: Eiserner Vorhang in Wien, Wim-Wenders-Film im Kino.
Heißes Eisen: ISRAEL. In der zeitgenössischen Kunstszene hat sich die antisemitische BDS-Bewegung seit Jahren etablieren können. Propalästinensisch zu sein ist hier erschreckend chic, auch auf den Kunst-Unis.
Hip-Hop
Gold: SHIRIN DAVID. Das S steht für Selbstermächtigung. Die deutsche Rapperin spielt mit (misogynen) Termini der männlichen Kollegen – und deutet sie nach Kräften um.
Silber: BIBIZA. Im Debütalbum, „Wiener Schickeria“, frönt der Wiener dem Hedonismus. Ein bisserl erinnert es hie und da an Falco.
Bronze: DOJA CAT. Rotziger Rap auf Samples aus den Sechzigern: „Paint the Town Red“ hat ein prächtiges Album eingeläutet.
Urgestein: DEICHKIND. Ihr Spaß kennt keine Grenzen: Die Altmeister der dadaistischen Breakbeat-Aneignung befassten sich auf „Neues vom Dauerzustand“ sogar mit Natur.
Heißes Eisen: KANYE WEST. Auf dem neuen Album rappt Ye vulgo Kanye West, dass er nicht antisemitisch sein könne, weil er Sex mit einer Jüdin hatte. Entschuldigen geht anders.
Netzkultur
Gold: GIRLS, GIRLS, GIRLS. 2023 war das Jahr des Mädchens. Mit eigenem Dinner, spezieller Mathematik und Trends wie dem #TubeGirl machte es stets von sich reden.
Silber: ROMAN EMPIRE. Ein Mythos aus TikTok: Männer denken täglich ans Römische Reich. Nun ist es Terminus für etwas, woran man oft denkt. Was ist Ihr „Roman Empire“?
Bronze: FLAGS. Es gibt rote, grüne und beige. Und es gibt „Icks“. Etwas, was abtörnt. Man kann so recht einfach toxische Signale und günstige Vorboten im Dating einordnen.
Urgestein: LINKEDIN. Das wohl steifste soziale Netzwerk bietet abtrünnigen Twitter-Usern Zuflucht – und kommt in Schwung.
Heißes Eisen: TWITTER/X. Musk vergab wieder seinen Lieblingsbuchstaben. Zur Debatte um Freiheit und Hetze trug das nichts bei.