Die Kultur-Bilanz

Das war unser 2023: Mächtige Mädchen, irre Köche und ewiggestrige Steine

Die U-Bahn ist zum Tanzen da! Helin Sahin löste einen Trend aus.
Die U-Bahn ist zum Tanzen da! Helin Sahin löste einen Trend aus. Katharina Roßboth
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Zeugnisse weiblicher Ermächtigung in allen Genres: „Barbie“ im Kino, „Frauenzimmer“ im Theater, neue Chefredakteurinnen und etliche Künstlerinnenpersonalen. Und über einen Nobelpreis? Freuten wir uns natürlich auch.

Theater

Gold geht im Theaterbereich heuer ans Schauspielhaus Graz für die Uraufführung eines 245 Jahre alten Stücks.
Gold geht im Theaterbereich heuer ans Schauspielhaus Graz für die Uraufführung eines 245 Jahre alten Stücks.Schauspielhaus Graz

Gold: VON EINEM FRAUENZIMMER. Femizid im Sturm und Drang: Erfolgreiche Uraufführung eines 245 Jahre alten Stücks von Christiane Karoline Schlegel am Schauspielhaus Graz.

Silber: KASMIR UND KAROLINE. Besser als im Burgtheater: Eine radikal stille und karge Horváth-Inszenierung in St. Pölten.

Bronze: PUBLIKUMSBESCHIMPFUNG. Mit Kreisky wird aus Handke Punk: Das Wiener Rabenhoftheater hat gezeigt, wie man den Avantgarde-Klassiker heute aufführen kann.

Urgestein: CLAUS PEYMANN. Mit 86 Jahren das erste Mal „Warten auf Godot“ inszeniert: Großer, gewitzter, sprachgewaltiger Existenzzirkus im Theater in der Josefstadt.

Heißes Eisen: JEDERMANN. Die Absetzung von Sturmingers prätentiöser Klimakriseninszenierung war künstlerisch verständlich, wurde aber ziemlich ungeschickt kommuniziert.

Oper

Rückkehr eines Erfolgsstücks: „Schwanda, der Dudelsack-Pfeifer“ am Theater an der Wien.
Rückkehr eines Erfolgsstücks: „Schwanda, der Dudelsack-Pfeifer“ am Theater an der Wien. APA/Theater an der Wien/Matthias Baus

Gold: SCHWANDA, DER DUDELSACKPFEIFER. Rückkehr eines Erfolgsstücks der gemäßigten Moderne im Museumsquartier. Ein Neustart für Komponist Jaromir Weinberger?

Silber: GRIECHISCHE PASSION. Der echte, tiefe Erfolg in Salzburg war ebenfalls einem Werk der gemäßigten Moderne vorbehalten: Bohuslav Martinus Flüchtlingsdrama bewegt.

Bronze: GÖTTERDÄMMERUNG. Die Oper Klagenfurt stemmt den „Ring“ – und weist am Ende auf den Anfang: Rheingold forever!

Urgestein: ANNA NETREBKO. Diva trotz aller Anfeindungen. Umjubelt in Wien und Mailand, zuletzt nach ihrer Arie in „Don Carlos“.

Heißes Eisen: TURANDOT. Im Psycho-Stil an der Staatsoper: Regisseursselbstdarstellung bringt eine Generation um die Chance, Hauptwerke unverfälscht kennenzulernen.

Literatur

Schriftsteller Daniel Kehlmann schrieb das Buch des Jahres.
Schriftsteller Daniel Kehlmann schrieb das Buch des Jahres.Heike Steinweg

Gold: LICHTSPIEL. Wie leicht werden wir von Gegnern eines Systems zu Mitläufern? Daniel Kehlmann zeigt es anhand des Schicksals von Filmregisseur G. W. Pabst in der NS-Zeit.

Silber: BETRUG. Zadie Smith findet im 19. Jh. Verwandte zu heutigen „Querdenkern“ und anderen sozialen Bewegungen: Virtuos.

Bronze: DER GANZ GEMEINE LUMPFISCH. Nachdenken über Artensterben, von Ned Beauman verpackt in den vielleicht originellsten und witzigsten Roman des Jahres.

Urgestein: THE SHARDS. Bret Easton Ellis’ furioses Comeback nach 13 Jahren Romanpause: Der „American Psycho“-Autor erzählt von reichen Jugendlichen in Los Angeles.

Heißes Eisen: ECHTZEITALTER. Wirklich den Deutschen Buchpreis wert? Tonio Schachingers Roman inspiriert vom „Theresianum“.

Film

Der PR-Coup des Jahres: „Barbenheimer“.
Der PR-Coup des Jahres: „Barbenheimer“.

Gold: BARBENHEIMER. Der PR-Coup des Jahres pushte Greta Gerwigs Puppenposse „Barbie“ und Christopher Nolans Nukleardrama „Oppenheimer“ in den Kino-Olymp. Das Erstaunliche daran: Beide Filme waren gut.

Silber: CLUB ZERO. Jessica Hausners gallige Ideologiesatire inthronisierte sie als neue Galionsfigur von Kunstkino made in Austria.

Bronze: LA CHIMERA. Was einen Kinofilm von Streaming-Dutzendware unterscheidet, zeigte Alice Rohrwachers Toskana-Ballade.

Urgestein: MARTIN SCORSESE. Von schnöder Altersmüdigkeit keine Spur: Mit „Killers of the Flower Moon“ legte der 81-jährige Meisterregisseur eines seiner stärksten Werke vor.

Heißes Eisen: KURZ IM FILM. Wie viele Filme über Ex-Kanzler Kurz liefen heuer im Kino? Drei? Dreißig? Cui bono? Und wer hat sie gesehen? Darüber ließ sich 2023 super streiten.

Klassik

Markus Poschner nahm alle Bruckner-Symphonien auf.
Markus Poschner nahm alle Bruckner-Symphonien auf.Alex Halada/AFP

Gold: MARKUS POSCHNER. Seine Gesamtaufnahme aller Fassungen von Bruckners Symphonien enthält packende Livekonzerte.

Silber: AUGUSTIN HADELICH. Spielt sich in die erste Reihe der internationalen Violinvirtuosen, u. a. mit einer anrührenden Interpretation des Konzerts von Alban Berg.

Bronze: MARTHA ARGERICH. Zeigte zuletzt mit Kammermusik im Musikverein ihre ungebrochene pianistische Souveränität.

Urgestein: HINDEMITH. Antoine Tamestit und die Staatskapelle Dresden unter Thielemann erinnerten mit dem „Schwanendreher“ an einen unterschätzten Meister der Moderne.

Heißes Eisen: JUBILÄUMSARMUT. Gedenktage werden nicht zum Aufforsten genutzt. 2024 gibt es sicher viel Schönberg, wenig Franz Schmidt. Und Julius Bittner? (Alle Jg. 1874.)

Wissenschaft

Ferenc Krausz, österreichisch-ungarische Physik-Nobelpreisträger, feiert im Max-Planck-Institut für Quantenoptik (MPQ).
Ferenc Krausz, österreichisch-ungarische Physik-Nobelpreisträger, feiert im Max-Planck-Institut für Quantenoptik (MPQ).APA/Comyan/Karl-Josef Hildenbrand

Gold: NOBELPREIS. Meister der kürzesten Zeiten: Physiker Ferenc Krausz, der lang an der TU Wien geforscht hat, wurde in Stockholm geehrt. Freude im Uni-Universum!

Silber: ABNEHMSPRITZE. Ein Stoff, der ein Sättigungshormon nachahmt – und damit Heißhunger bremst: Biochemie, die helfen könnte, die Epidemie Fettsucht zu bekämpfen.

Bronze: MINIHERZ. Forscher am Wiener IMP schufen ein Modell aus Stammzellen, das in der Petrischale pocht. Aufregend.

Urgestein: ANTIMATERIE. Sie erwies sich wieder einmal in Experimenten als normaler, als sie sich theoretische Physiker erträumen.

Heißes Eisen: SUPRALEITUNG-FAKE. Koreanische Forscher wollten uns einreden, sie hätten Supraleitung bei Raumtemperatur nachgewiesen. Hätten sie gern.

Serie

Irre Köche in der Serie „The Bear“.
Irre Köche in der Serie „The Bear“.Chuck Hodes

Gold: THE BEAR. Konnte diese feine Serie (auf Disney+) über den Irrsinn in einer Chicagoer Restaurantküche noch köstlicher werden? Staffel zwei zeigte heuer: Yes, chef!

Silber: DEADLOCH. Derber feministischer Spaß und zugleich ausgeklügelter Krimi ist dieses australische Kleinod (Amazon).

Bronze: THE NIGHT AGENT. Der fesselnde Agententhriller mauserte sich zur heuer meistgestreamten Netflix-Serie.

Urgestein: THE CROWN. Nach sechs Staffeln ist die royale Seifenoper mit gewohnt fantasievollen Ausschmückungen zu Ende gegangen: Nicht schlimm.

Heißes Eisen: SQUID GAME: THE CHALLENGE. Aus dem gehypten koreanischen Serienhit von 2021 – über grausame Kinderspiele – machte Netflix eine Realityshow. Die war menschenverachtend wie das Vorbild. 

Pop

Urgestein? Nein! Die Rolling Stones brachten heuer ein neues Studioalbum heraus.
Urgestein? Nein! Die Rolling Stones brachten heuer ein neues Studioalbum heraus.Imago / Hannah Meadows Photography / Avalon

Gold: ROLLING STONES. Urgestein? Vielleicht. Aber diese Überlebenden aus dem Rock-Neolithikum zeigten sich mit dem Album „Hackney Diamonds“ sehr frisch.

Silber: ANOHNI AND THE JOHNSONS. Transgeschlechtlich, transzendent: Dieser innige Soul erhebt sich übers Irdische, sagt: „It must change“ und fragt: „Why am I alive?“

Bronze: LANA DEL REY. Diese Frau kennt alle dunklen Geheimnisse Kaliforniens. Und betört unsere Herzen und Stirnhirne damit.

Urgestein: TAYLOR SWIFT. Gold? Nur mit alten Alben geht das nicht. Aber diese Vertreterin der (guten) Pop-Normalität war überall.

Heißes Eisen: RAMMSTEIN. Auch wenn die Missbrauchsvorwürfe nicht bestätigt werden konnten, Till Lindemanns machistische „Aftershow-Partys“ waren letztklassig.

Medien und TV

Gold für eine ORF-Serie: „Schnee“
Gold für eine ORF-Serie: „Schnee“Orf/br/primary Pictures/oliver Oppitz

Gold: SCHNEE. Alpine Thrillerserie in Starbesetzung (u. a. Brigitte Hobmeier). Mehrheitlich von Frauen erdacht und realisiert. Aus weiblicher Perspektive erzählt. Cool.

Silber: FRAUENPOWER. Maria Scholl (APA), Anna Thalhammer („Profil“), Gabriele Waldner (ORF) wurden Chefredakteurinnen.

Bronze: BYE-BYE. 35 Jahre Thomas Gottschalk bei „Wetten, dass..?“, 30 Jahre Vera Russwurms Show und 16 Jahre Debattenkultur bei Anne Will gingen zu Ende.

Urgestein: WIENER ZEITUNG. 1703 gegründet, ist die bis dahin älteste Tageszeitung der Welt am 30. Juni zum letzten Mal gedruckt erschienen. 65 Mitarbeiter verloren ihre Jobs.

Heißes Eisen: MEDIENPOLITIK. Die Regierung habe zu viel Einfluss auf ORF-Gremien, sagt der VfGH. Das Gesetz muss repariert werden.

Bildende Kunst

Vermeer hat heuer regiert mit einer eindrucksvollen Ausstellung in Amsterdam, bei der sogar das Mädchen mit Perlenohrring vorbeischaute.
Vermeer hat heuer regiert mit einer eindrucksvollen Ausstellung in Amsterdam, bei der sogar das Mädchen mit Perlenohrring vorbeischaute. Mauritshuis

Gold: VERMEER. Der älteste Alte Meister, der 2023 gefeiert wurde, die Schau in Amsterdam war beeindruckend. Es folgten: Frans Hals (London), Caspar D. Friedrich (Hamburg).

Silber: KLIMTS EINFLÜSSE. Das Belvedere beging sein 300-Jahr-Jubiläum gebührend mit einer epochalen Klimt-Ausstellung.

Bronze: FRAUEN. Kiki Kogelnik (BA-Kunstforum), Valie Export (Albertina), Bourgeois und Bertlmann (Belvedere). Stark.

Urgestein: ANSELM KIEFER. Mit 78 hat der deutsche Starkünstler sichtlich nicht vor, leiser- oder gar kleinerzutreten: Eiserner Vorhang in Wien, Wim-Wenders-Film im Kino.

Heißes Eisen: ISRAEL. In der zeitgenössischen Kunstszene hat sich die antisemitische BDS-Bewegung seit Jahren etablieren können. Propalästinensisch zu sein ist hier erschreckend chic, auch auf den Kunst-Unis.

Hip-Hop

Sie gab Gottschalk Saures: Rapperin Shirin David auf der Couch.
Sie gab Gottschalk Saures: Rapperin Shirin David auf der Couch.Imago / Arnulf Hettrich

Gold: SHIRIN DAVID. Das S steht für Selbstermächtigung. Die deutsche Rapperin spielt mit (misogynen) Termini der männlichen Kollegen – und deutet sie nach Kräften um.

Silber: BIBIZA. Im Debütalbum, „Wiener Schickeria“, frönt der Wiener dem Hedonismus. Ein bisserl erinnert es hie und da an Falco.

Bronze: DOJA CAT. Rotziger Rap auf Samples aus den Sechzigern: „Paint the Town Red“ hat ein prächtiges Album eingeläutet.

Urgestein: DEICHKIND. Ihr Spaß kennt keine Grenzen: Die Altmeister der dadaistischen Breakbeat-Aneignung befassten sich auf „Neues vom Dauerzustand“ sogar mit Natur.

Heißes Eisen: KANYE WEST. Auf dem neuen Album rappt Ye vulgo Kanye West, dass er nicht antisemitisch sein könne, weil er Sex mit einer Jüdin hatte. Entschuldigen geht anders.

Netzkultur

Helin Sahin, das Tube Girl
Helin Sahin, das Tube GirlKatharina Roßboth

Gold: GIRLS, GIRLS, GIRLS. 2023 war das Jahr des Mädchens. Mit eigenem Dinner, spezieller Mathematik und Trends wie dem #TubeGirl machte es stets von sich reden.

Silber: ROMAN EMPIRE. Ein Mythos aus TikTok: Männer denken täglich ans Römische Reich. Nun ist es Terminus für etwas, woran man oft denkt. Was ist Ihr „Roman Empire“?

Bronze: FLAGS. Es gibt rote, grüne und beige. Und es gibt „Icks“. Etwas, was abtörnt. Man kann so recht einfach toxische Signale und günstige Vorboten im Dating einordnen.

Urgestein: LINKEDIN. Das wohl steifste soziale Netzwerk bietet abtrünnigen Twitter-Usern Zuflucht – und kommt in Schwung.

Heißes Eisen: TWITTER/X. Musk vergab wieder seinen Lieblingsbuchstaben. Zur Debatte um Freiheit und Hetze trug das nichts bei.

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