„Alleinreisende machen unvernünftige Dinge“

Interview. Der deutsche Reiseschriftsteller Roger Willemsen im Gespräch über die Einsamkeit des Reisens, über die Angst vor Selbstmordattentätern, die ernüchternde Rückkehr in zerstörte Idylle und darüber, warum er Wien richtig mag.

Die Presse: Ich erreiche Sie zuhause in Hamburg. Sie sind derzeit gar nicht auf Reisen?

Roger Willemsen: Ich bin – wie üblich – zwischen zwei Reisen. Ich habe eine Reise hinter mir und bin in dem Modus des Interrail-Fahrens einen Monat lang vor der Europawahl kreuz und quer durch Europa unterwegs gewesen. Meine nächste Reise wird noch in dieser Woche angetreten. Da will ich nach Luleå fahren, das ist die nördlichste Stadt an der Ostsee, um einen Text über den Norden zu schreiben.

Interrail durch Europa – haben Sie das früher schon einmal gemacht?

Und ob. Meine Generation hat Europa eigentlich erst kennengelernt über Interrail. Insofern lag der Reiz für mich darin, diese Reise noch einmal anzutreten, wenn auch auf anderen Spuren, dieses Mal war ich mehr im Osten unterwegs.

Keine so exotischen Orte, wie die, an denen Sie sich üblicherweise für Ihre Reisereportagen aufhalten.

Das stimmt. Wobei dieses Europa auch auf eigene Weise seine Exotismen hat. Ich war da in den Ostkarpaten in einem kleinen Ort, wo der Bildhauer Brancusi drei Skulpturen hinterlassen hat. Da ist es schon dunkel.

Sie haben Bangkok nur bei Nacht erkundet, die Enden der Welt in Patagonien, Timbuktu und am Nordpol gesucht. Wie haben Sie Ihre Enden der Welt gefunden?

Die Enden der Welt sind natürlich insofern ein metaphorischer Ausdruck, als man sie letztendlich in sich selbst finden muss. Es gibt ein paar Enden, die bieten einem die Landkarten an. Dazu mag der Nordpol gehören oder Timbuktu, weil man auf die Todeszone der Sahara blickt, und da beginnt eine lebensfeindliche Zone, die jedenfalls für Menschen nicht mehr gemacht ist. Und dann gibt es innere Zustände. Man kommt in einem Bordell in Indien in einen Flur, wo man gezeigt bekommt, dass am Ende dieses Flurs eine 18-jährige Prostituierte sitzt, die sowohl aidskrank ist, als auch schwachsinnig. Die nur noch Menschen dienen kann, die selber aidsinfiziert sind und nichts dagegen haben, mit einer Frau, die geistig zurückgeblieben ist, zu schlafen. Das ist die unterste Klasse von Menschen. An diesem Flur angekommen, vor dieser Frau stehend dachte ich, hier ist ein Ende, hier geht es buchstäblich nicht mehr weiter.

Wie finden Sie auch an den weniger exotischen Orten immer wieder exotische Personen?

Sie stoßen mir zu. Am besten ist, man reist allein, dann wird die Welt sehr durchlässig, weil sich niemand mehr besonders scheut, mit einem alleinreisenden Fremden in Kontakt zu treten. Das sind zu allererst die kleinen Jungen, die milieuschlau sind, schnell Englisch lernen und die auf der ganzen Welt die größte Schamlosigkeit haben im Umgang mit Fremden. Das ist der kleine Junge in Afghanistan, der sagt: „Hello Mister Pear! What's your matter?“, der dann sofort an der eigenen Seite ist – zwei Tage lang. Diese Kinder sind mir überall begegnet. Es sind auch manchmal Leute, die ich auf mich aufmerksam mache.

Lassen Sie sich gerne aufklauben und mitnehmen?

Gerade Zustände der Einsamkeit, die Alleinreisende haben, bringen einen dazu, unvernünftige Dinge zu tun. Ich bin einmal in Minsk einfach in ein Gebäude gelaufen, aus dem zwei Frauen herauskamen, die ich sympathisch fand. Ich dachte, ich gehe jetzt einfach so weit, bis mich jemand aufhält. Dann kommt es sicher zu einer Begegnung. Dann stellte sich heraus, dass mich niemand aufhält, bis ich am Ende am Krankenbett eines sterbenden Mannes saß, der keine Blumen oder Geschenke am Bett hatte, der dort völlig verlassen mit dem Leben rang. Ich hatte dann eine halbe Stunde an seinem Bett gesessen und zwei Gewürzgurken, die ich zuvor gekauft hatte, dort vergessen, sodass ich einen sterbenden Weißrussen mit ein paar Gewürzgurken zurückließ.

Das sind solche Szene, die dadurch passieren, dass man in die Erzählung eintritt. Irgendwo gibt es einen Ablauf von Geschichten und plötzlich ist man mitten drin.

Sie haben Afghanistan mehrfach bereist, kein klassisches Reiseziel. Waren Sie dort auch allein unterwegs?

Nach Afghanistan kann man kaum wirklich allein reisen, weil es dann zu gefährlich wird. Ich habe viele Reisen nach Afghanistan nicht antreten können, auch wenn ich schon ein Visum hatte, weil mir unmittelbar vor der Abreise gesagt wurde, dass die Sicherheitslage es nicht erlaube. Beim ersten Mal bin ich mit einer Hilfsorganisation gereist und hatte deren relativen Schutz. Im selben Jahr bin ich zurückgekehrt, weil ich so fasziniert war, und bin einen Monat lang unterwegs gewesen mit einer Freundin, die Chefin des afghanischen Frauenverein ist, und ich bin dann der Schirmherr dieser Organisation geworden. Das ist in Afghanistan, wo es viele familiäre Verflechtungen gibt, dann eine ganz andere Situation, eine sicherere, eine einfachere, als wenn man als vollends Fremder dort eintrifft. Da könnte man vielleicht nicht lange überleben.

Vor Kurzem fanden in Afghanistan Wahlen statt. Wie beurteilen Sie die Veränderungen des Landes und diese Wahl?

Wissen Sie, die Desillusionierung in Bezug auf Demokratie, die wir dort hinbringen und wie ein Sakrament anbieten, die ist groß. Der dramatischste Satz war jener einer jungen Afghanin, die mir sagte: „Ich bin die Erste in meiner Familie, die zur Schule gegangen ist, die Abitur gemacht hat, die studiert hat. Ich habe alles dafür getan, dass es demokratische Wahlen in diesem Land gibt. Doch als die Wahl kam, bin ich nicht hingegangenen, weil es niemanden mehr gab, dem ich vertrauen konnte.“ Wenn Sie jetzt dieses Parlament ansehen, wo Warlords, Drogenbarone und Taliban ihre Strohmänner sitzen haben, dann können Sie wirklich dem Land sehr schwer erklären, dass Sie etwas für groß halten, was alle Kräfte, unter denen Afghanistan gelitten hat, erstmalig in dieses Parlament gespült hat. Insofern haben die Menschen eine Art Crashkurs in Demokratie-Enttäuschung hinter sich. Es ist dann schwer, Begeisterung für diese Wahl auszulösen.

Verspüren Sie bei Ihren Reisen je Angst?

Angst kann man wie alle Gefühle nicht 24 Stunden am Tag haben. Man wird dann und wann von ihr ereilt. Doch speziell in Afghanistan war ich relativ angstfrei, weil ich gemerkt habe, ich habe keinerlei Einfluss auf Selbstmordattentäter, auf Autobomben auf Minen. Ich habe da auch so viel extreme Sachen erleben müssen, dass ich irgendwann angstfrei war. Ich habe einmal gekifft im Norden Afghanistans. Da hatte ich so eine Art Horrortrip, wo ich plötzlich alle Menschen, die in diesem Ort Kunduz einmal gelitten hatten, meinte, im eigenen Zimmer zu sehen und wo seelische Zustände sich plötzlich materialisierten. Das war schockierend.

Gab es auf Ihren Reisen Ernüchterungen?

Oh ja. Das passiert vor allem da, wo man zurückkehrt und sieht in welcher Geschwindigkeit sich Idyllen verändert haben. Im Moment hat man das Gefühl, dass der Massentourismus sehr viel ändert und dass man an bestimmten Orten nicht mehr gut reisen kann, weil es keinen einzigen Quadratmeter an Boden gibt, der nicht von Andenkenläden übersät ist, oder weil es Länder gibt, die sich so komplett auf Tourismus einstellen, der dann aber ausbleibt. Das macht eine Landschaft nicht unbedingt besser. Albanien wäre so ein Beispiel.

Apropos Rückkehr: Kommen Sie öfters nach Wien, wo Sie einmal gelebt haben?

Ja, mehrmals im Jahr kehre ich zurück. Ich bin in Wien richtig gerne. Ich lasse mich von keiner Anti-Piefke-Mentalität abschrecken. Im Zweifelsfalle tue ich einfach so, als wäre das Wiener Schmäh oder ich sei ein Wiener mit schlechter Laune. Wenn es eine Stadt gäbe, in die ich ziehen würde, wenn ich Hamburg je verließe, dann wäre das Wien. Erstens, weil man dort Deutsch spricht, zweitens, weil es eine mir sympathische Großstadt ist.

Das freut uns! Warum haben wir dann von Ihnen noch nie von einer Reise durch Österreich oder durch Wien lesen können?

Stimmt. Ich bin natürlich schon viel durch Österreich gereist. Doch ich weiß nicht, ob ich etwas wie die „Deutschlandreise“ auf Österreich übertragen könnte. Ich bin mit Deutschland sehr kritisch umgegangen und weiß nicht, ob ich das mit Österreich machen könnte.

ZUR PERSON

Roger Willemsen (* 1955 in Bonn) studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Bonn, Florenz und in Wien. Er war als London-Korrespondent für deutsche Zeitungen und für den Rundfunk tätig, bevor er 1991 nach seiner Rückkehr die tägliche Interviewsendung „0137“ beim TV-Sender Premiere übernahm, für die er gut 1000 Interviews führte. Willemsen unterrichtete als Gastprofessor an der Uni Bonn Literaturwissenschaft und moderierte diverse Kultursendungen und Interviewformate, bis er sich 2002 aus dem Fernsehen zurückzog. Danach entstanden viele seiner bekanntesten Reisebücher wie „Deutschlandreise“, „Afghanische Reise“, „Bangkok Noir“ und „Die Enden der Welt“. Seit 2010 ist er Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. [ S. Fischer ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2014)

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