12 Jahre „Die Presse am Sonntag“

„Was darf der Mensch?“

Die Presse/Clemens Fabry
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Fürs Jubiläum der „Presse am Sonntag“ wurde ich zum Blattmacher. Was ich mir für diese Ausgabe überlegt habe.

Wenn man als Wissenschaftler einen Tag in die Rolle eines Chefredakteurs schlüpft, dann muss man sich unmittelbar damit beschäftigen, ob die Fragen, die man bearbeiten möchte, auch für alle Leserinnen und Leser klar und verständlich sind. Ich hatte für diese Jubiläumsausgabe zwei Fragen im Kopf – oder, um schon einmal meine ganz persönliche Interpretation des von Erwin Wurm kreierten Covers anzubieten, zwei Früchte vor meinem Gesicht, auf die man einen genauen Blick werfen soll: „Was darf der Mensch?“ bzw. „Was soll der Mensch?“. Unabhängig davon, wie diese Fragen aus der Sicht etwa der Rechtswissenschaft, der Ethik, der Theologie, der Philosophie, der Kunst, der Wirtschaft oder gar der Genetik einzustufen sind, habe ich beide Fragen bei vielen Freundinnen und Freunden vorher „getestet“.

„Was darf der Mensch?“ wurde überwiegend ethisch (im Sinne von vertretbar, erstrebenswert etc.) und gleichzeitig juristisch (im Sinne von gesetzlich erlaubt oder verboten) interpretiert. Alle haben argumentiert, dass die Erarbeitung entsprechender Gesetze hoffentlich immer eine intensive ethische Auseinandersetzung mit den Fragestellungen voraussetzt. Weit interpretiert könnte das bedeuten, der Mensch, im Sinne der Menschheit, „darf“ alles, was er (die demokratische Mehrheit) für gut, erstrebenswert und richtig hält. Er erlaubt es sich dann, im Sinne von Gesetzen, selbst. Niemand meiner Freundinnen und Freunde meinte, dass der einzelne Mensch immer tun darf, was er gern tun möchte. „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ (Immanuel Kant). Zu eng interpretierend könnte man wiederum sagen, der Mensch darf alles, was gesetzlich erlaubt ist. Diese Frage haben übrigens alle auch sofort mit der Covid-19-Pandemie in Verbindung gebracht. Allerdings eher unter dem Motto: „Man weiß ja überhaupt nicht mehr, was man wo und wann überhaupt noch darf und was nicht!“

„Was soll der Mensch?“ haben viele Befragte ebenfalls ethisch (im Sinne von: was wir tun sollen und was nicht) aufgefasst, aber auch sehr oft quasi als zum Handeln auffordernd (im Sinne von: Das muss jetzt eigentlich sofort umgesetzt bzw. verhindert werden) interpretiert. Das Unterlassen muss genauso ethisch gerechtfertigt werden wie das Tun.

Wir haben schlussendlich als Titel für diese Edition beide Fragen gewählt. Einerseits, um ganz klar zu machen, dass wir all diese Aspekte abdecken und diskutieren wollen. Und andererseits, weil uns im Zuge der Arbeit an dieser Ausgabe oft die Meinung begegnet ist, dass vielerorts Dinge gesetzlich erlaubt sind, die aus ethischen Gesichtspunkten abzulehnen sind, und vice versa. Bitte finden Sie Beispiele dafür in den Interviews, Gastbeiträgen und Reportagen dieser Jubiläumsausgabe.

Was der Mensch für richtig bzw. erstrebenswert hält und was nicht, ist zumindest teilweise auch ein Spiegel der Zeit, des Wissensstandes, der sich verändernden Moralvorstellungen, der Möglichkeit der Folgenabschätzung u. v. m. Der vernunftbegabte, soziale, lösungsbegabte, ethisch denkende Mensch sollte jedenfalls faktenbasierte Überlegungen dazu anstellen. Demokratische Prozesse, die zur Etablierung entsprechender Gesetze führen, sind zwar das Beste, aber bei Weitem nicht ohne Fehler. Mehrheiten haben sich schon zu oft geirrt, und das scheint auch gegenwärtig nicht abzunehmen. Und vergleicht man die Gesetze in verschiedenen demokratischen Ländern, so sieht man klar, dass Mehrheiten auch zu sehr verschiedenen Schlüssen kommen können. Jedenfalls unverzichtbar ist, dass man sich laufend intensiv mit der Frage beschäftigt: „Was soll der Mensch dürfen – was halten wir aktuell ethisch für richtig oder falsch, und was sollte gesetzlich wie geregelt werden?“

Wir haben für diese Edition Persönlichkeiten aus allen Bereichen gefragt, was sie für richtig halten. Es sind Nobelpreisträger wie der deutsche Virologe Harald zur Hausen und der bengalische Ökonom Mohammad Yunus ebenso darunter wie Ex-Google-Chef Eric Schmidt, die Erfinderin des mRNA-Impfstoffs, Katalin Karikó, die Opernsängerin Elīna Garanča, die Geigerin Anne-Sophie Mutter, die Schriftstellerin Juli Zeh, die Komikerin Anke Engelke, der Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton, der Präsident des Zentralrats der Deutschen Juden, Josef Schuster, und viele mehr. Ich kann hier nicht alle nennen. Um die Welt in diese Ausgabe zu holen, haben wir die Bühne vorwiegend internationalen Gästen überlassen.

Führende österreichische Zeitgenossen aus allen Metiers außer der Politik habe ich gebeten, drei Fragen kurz zu beantworten: Was soll der Mensch nicht mehr dürfen? Was soll der Mensch niemals dürfen? Was soll der Mensch bald dürfen? Ich bin überwältigt von der Vielzahl der Antworten.

Mein besonderer Dank gilt Erwin Wurm und Élise Mougin-Wurm. Ich habe mich enorm darüber gefreut, dass sie meiner Bitte gefolgt sind und die künstlerische Gestaltung des Covers und aller Aufschlagseiten in dieser Jubiläumsausgabe übernommen haben. Und der Redaktion der „Presse am Sonntag“ danke ich natürlich auch. Es war sehr spannend für mich – und für Sie hoffentlich auch.

Viel Freude beim Lesen und beim Diskutieren danach.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2021)

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