Beim Sondertreffen der Innenminister berieten die Ressortchefs über die zu erwartende Massenflucht aus Afghanistan und Maßnahmen gegen den illegalen Migrationsstrom nach Litauen.
Das aktuelle Weltgeschehen hat die offizielle Agenda der EU-Innenminister gestern völlig durcheinandergeworfen: Ursprünglich war das per Videokonferenz abgehaltene Sondertreffen der 27 Ressortchefs wegen der prekären Situation in der litauisch-belarussischen Grenzregion einberufen worden, wo Tausende Migranten seit Wochen illegal in die EU gelangen. Noch dringlicher aber ist die dramatische Lage in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban vor wenigen Tagen. Für die Innenminister steht vor allem eine Frage im Mittelpunkt: Welche Vorkehrungen sind in Hinblick auf die zu erwartende Flüchtlingswelle aus dem knapp 40 Millionen Einwohner zählenden Land zu treffen? Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für die „Augsburger Allgemeine“ zufolge befürchten bereits zwei Drittel der deutschen Bürger, dass sich die Situation von 2015 – dem Jahr der großen Flüchtlingskrise – wiederholen könnte.
Abhängig von der EU
Österreichs Bundesregierung will – im Gegensatz zu einigen Länderchefs wie dem Wiener Bürgermeister, Michael Ludwig (SPÖ) – keine weiteren Menschen aus Afghanistan aufnehmen. Selbst Abschiebungen in das Land werden bekanntlich weiterhin nicht pauschal ausgeschlossen. De facto ist das derzeit freilich ohnehin unmöglich. Deshalb, so heißt es im Innenministerium, müssten Alternativen her. Eine Möglichkeit sieht Innenminister Karl Nehammer etwa in der Schaffung von „Abschiebezentren“ in der Region – eine Idee, die er beim gestrigen virtuellen Ratstreffen mit seinen Amtskollegen auch thematisierte. „Wir sind in dieser Frage natürlich abhängig von der EU“, heißt es aus dem Ministerium zur „Presse“. Bereits im Jahr 2018 habe es einen entsprechenden Beschluss der EU-Regierungschefs gegeben, Anlandeplattformen in Drittstaaten zu errichten.
Allerdings habe die Kommission „nie ernsthaft“ darüber verhandelt. Das sei „nicht nachvollziehbar, wird kritisiert. Fakt ist: Bis heute gibt es kein einziges Nachbarland der EU, das sich zur Errichtung solcher Zentren bereit erklärt. Österreich versucht nun einen neuen Vorstoß und hofft im Rat vor allem auf die Unterstützung Dänemarks, dessen sozialdemokratisch geführte Regierung in Migrationsfragen eine ähnlich rigide Linie verfolgt.
Appell an EU-Kommission
Das zeigte sich zuletzt auch beim Thema Litauen, das bei der gestrigen Videokonferenz schließlich doch zur Sprache kam. Allein in diesem Jahr sind über 4000 (in erster Linie irakische) Migranten in das kleine Land gekommen, weil der belarussische Machthaber, Alexander Lukaschenko, diese als Reaktion auf die gegen ihn verhängten EU-Sanktionen passieren lässt.
Wien, Berlin, Kopenhagen und andere EU-Hauptstädte richteten zuletzt einen Appell an die Kommission, dass sich die EU von Autokraten wie Lukaschenko oder dem türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, „nicht erpressen“ lassen dürfe, sondern ihre Macht als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ausnützen müsse. An erster Stelle müssten aber ein lückenloser Grenzschutz und die Verhinderung illegaler Migration stehen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2021)