Interview

„Die Taliban sind in der Moderne angekommen“

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Rüdiger Lohlker, Islamwissenschaftler, erklärt, was hinter den moderateren Ansagen der „Neo-Taliban“ steckt, warum ihre alte Garde weiter offene Rechnungen mit Waffengewalt begleichen wird und wieso viele Afghanen nicht gegen die Extremisten gekämpft haben.

Die Presse: Als al-Qaida-Führer Osama bin Laden in den Achtzigerjahren nach Afghanistan ging, um mit den Mujahedin gegen die Sowjets zu kämpfen, gab es die Taliban noch gar nicht. Wie ist deren fundamentalistischer Islam entstanden?

Rüdiger Lohlker: In Afghanistan gab es historisch gesehen eine breite sufische Strömung (der Sufismus folgt liberalen Auslegungen des Islam, Anm.). Der Purismus der Taliban ist das Resultat der Fluchtbewegung nach Pakistan, wo islamische Schulen errichtet wurden, die insbesondere junge Männer aus der Flüchtlingsbevölkerung unterrichtet und indoktriniert haben. Wir müssen uns nur leise daran erinnern, dass die Lehrbücher dafür in den USA produziert wurden. Da stand dann so etwas wie: Wenn 50 russische Soldaten auftauchen und ich erschieße 30, wie viele bleiben übrig? Es gab ein Wechselspiel der USA, der Pakistanis und der afghanischen Regierung. Die Sowjetbesatzung und der Widerstand der Mujahedin waren natürlich die Auslöser.

Würden Sie die Taliban wie bin Laden als Jihadisten mit internationalen Zielen bezeichnen?

Sie sind eine afghanische Organisation und keine global denkenden Jihadisten. Sie so zu nennen, wäre ein Fehler.

Trotzdem ist ihr Siegeszug in der weltweiten jihadistischen Szene als Propagandaerfolg gefeiert worden.

Es gibt einen ganzen Katalog von Jubelaussagen jihadistischer Gruppierungen – nur nicht vom „Islamischen Staat“. Der hat im Mai eine Broschüre mit scharfer Kritik an den Taliban verbreitet: Sie seien Heuchler und Verräter, die mit den Ungläubigen, den USA, verhandeln. Aber die anderen jihadistischen Strömungen finden sie toll. Das ist natürlich ein Propaganda-Boost, der für Unruhe sorgen wird. Der Erfolg der Taliban wird ein paar Heißsporne anderswo anfachen, das würde ich nicht unterschätzen.

Kann sich Afghanistan wieder in einen Rückzugsort für internationale Terroristen verwandeln, wie es das in den Neunzigerjahren für bin Laden war?

Man muss nicht immer die Situation in Afghanistan vor 24 Jahren im Kopf haben. Die aktuellen Taliban sind flexibel und sagen sich: Wenn wir uns neue Ausbildungslager für Terroristen leisten, ist das eher nicht so gut. Es kann aber sein, dass sie es einmal als opportun erachten, internationale Gäste aufzunehmen und das mit dem Gastrecht im Paschtunwali legitimieren, dem Gewohnheitsrecht der Paschtunen. Das wären dann Taliban „Old School“ .

Das klingt, als gäbe es eine „New School“?

Ich würde ab dem Jahr 2006 von Neo-Taliban sprechen. Es gibt eine andere Führungsschicht in ihren Vierzigern. Dazu kommen junge Kämpfer, die gut ausgebildet sind und eine diplomatisch fähige Führungsschicht, die mit der internationalen Situation flexibel umgeht. Eine Zeitung taufte sie die „Diplo-Taliban“. Die Bewegung hat sich nach der erfolgreichen US-Offensive im Jahr 2006 gegen sie in eine polyzentrische Organisation umgeformt, die auf lokaler Ebene mit Stammesgruppen auf Probleme lokaler Art reagieren konnte. In mancher Hinsicht sind sie auch ein bisschen Erben der Strategien Mao Zedongs, der Einkreisung der Städte durch die Dörfer. Sie haben aber auch von den vielen Fehlern der afghanischen Regierungen und ihrer Verbündeten profitiert, die mit daran beteiligt waren, die Bevölkerung gegen sich aufzubringen.

»Old-School-Taliban in den Provinzen ist wurscht, was die Leute in Kabul oder irgendwelche Führungsgremien vorgeben: Die planieren die Mädchenschule.«

Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker

Kaufen Sie den Taliban ab, dass sie nun moderater sind, wie sie selbst behaupten?

Am Boden kann das schnell ganz anders aussehen. Old-School-Taliban in den Provinzen ist wurscht, was die Leute in Kabul oder irgendwelche Führungsgremien vorgeben: Die planieren die Mädchenschule. Es werden sicher auch persönliche Rechnungen beglichen werden. Ich vermute aber, die neue Führung wird versuchen, das nicht überhandnehmen zu lassen. Die Taliban kommen in der Moderne an – auch wenn sie sich nicht im letzten Chic kleiden. Die Moderne ist halt nicht nur gut – auch die Nazis waren modern.

Was meinen Sie mit Moderne?

Die Taliban haben eine gute Online-Präsenz, wie die Hamas oder die Hisbollah sind sie medienaffin und überaus interessiert an Technik. Es spricht für Pragmatismus, wenn sie sagen: Frauen können durchaus ausgebildet werden. Sie wissen, dass sie auch Ärztinnen und Krankenschwestern in Afghanistan brauchen werden. Wenn sie Segregation der Geschlechter in den Krankenhäusern einführen wollen, nutzt es ihnen auch nichts, wenn die Frauen reihenweise sterben, weil sie von Männern nicht behandelt werden dürfen. Es geht um technisches, modernes Wissen – minus den Dingen, die wir an der Moderne schätzen.

Gibt es bei den Taliban eine religiöse Autorität, die eine Linie vorgibt?

Es gibt natürlich religiöse Gelehrte, aber viel entscheidender ist, was lokal gedacht wird. Die Taliban sagen, sie handeln nach dem Koran und der Scharia. Das wird dann vor Ort auf Basissätze reduziert, dass Hände abgehackt werden müssen bei chronischen Dieben oder Homosexuelle getötet werden müssen. Um diese Basissätze herum gibt es keine große theologische Diskussion.

Warum haben sich viele Afghanen nicht gegen die Taliban gewehrt?

Wenn ich als Afghane mitbekomme, dass die glorreichen Helfer aus dem Westen bald abziehen, muss ich mir überlegen: Was sage ich, wenn ich nicht rauskomme? Ich muss mich arrangieren. Das ist die übliche Methode: Ein Familienmitglied bei den Taliban, eins in der Armee, eins bei der Polizei und – wenn man Glück hat – eins bei der Regierung. Man muss den Menschen ein bisschen Pragmatismus zugestehen und sollte nicht erwarten, dass die Afghanen unseren Krieg ausrichten – ich beziehe da auch Österreich mit ein, das hatte ja auch ein paar Leute drüben.

Sie glauben, viele Afghanen haben den Kampf gegen die Taliban nicht als ihre Aufgabe wahrgenommen?

Sie haben wahrgenommen, dass irgendwelche Offiziere das Geld eingesteckt haben und irgendjemand für tausend Leute Sold bezogen hat, die es gar nicht gab. Sie haben wahrgenommen, dass man nur mit Bestechung durchkommt und dass die Leute, die bestochen werden müssen, von den ausländischen Militärs unterstützt werden. Afghanistan war eine Korruptionsmaschine. Soll ich als afghanischer junger Mann die Korruptionsmaschine der afghanischen Regierung verteidigen, die von den USA und den Europäern bedient wird?

Zur Person

Rüdiger Lohlker, 62,
ist Islamwissenschaftler an der Universität Wien. Er studierte in Göttingen und forschte unter anderem in Kiel und Marokko. In Wien leitete er Forschungsprojekte zu Jihadismus, Salafismus, Online-Propaganda und Terrorismus.

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