Joachim Gauck: „Wir haben im Leben oft die Wahl“

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Kann die Kunst "das menschliche Denken aufwecken", wie das diesjährige Motto verspricht? Joachim Gauck erinnert daran, welche Rolle sie in der DDR spielte. Die Reden zur Eröffnung.

Wie immer sind die Erwartungen hoch. Wie immer sind auch die Worte groß, die zu so einem Anlass gefunden werden. „Demokratische Gesellschaften brauchen die emotionale Reife der Bürgerinnen und Bürger“, erklärte Bundesministerin Schmied zur Eröffnung der Salzburger Festspiele am Mittwoch in der Felsenreitschule, „Bildung, Kunst und Kultur fordern uns in unserem Menschsein. Sie verlangen unsere Stellungnahme. Sie formen unsere Prinzipien und Haltungen.“ Landeshauptfrau Burgstaller beschwor die Kultur als „Gegenmacht“ zum „Zynismus der Finanzmärkte und Ratingagenturen“ – und zitierte Luigi Nono, dessen „Das Ohr, die Augen, das menschliche Denken aufwecken“ als Motto über den diesjährigen Festspielen steht.

Auch Bundespräsident Fischer streifte das Thema. Er plädierte nach dem Massaker in Norwegen für europäischen Zusammenhalt – „wir lassen uns Demokratie und Menschenrechte weder wegbomben noch wegschießen“ – und nahm dabei auch die Kunst in die Pflicht: „Gerade die europäische Kultur ist hervorragend geeignet, dieses europäische Bewusstsein zu stützen.“

Kunst als Flucht?

Ja, die Kunst, die Kultur und ihre Macht. Oder Ohnmacht? Jean Ziegler, der erst als Eröffnungsredner im Gespräch war, dann aber wieder ausgeladen wurde, hat schon am Sonntag mit einer – in der „Presse“ abgedruckten – Gegenrede kundgetan, was er davon hält: Zwar träume auch er diesen Traum von der Kunst, die den Zuschauer und Zuhörer aufwühle, die „auch die dickste Betondecke des Egoismus, der Entfremdung und der Entfernung“ durchdringe. „Aber keine Angst, dieses Wunder wird in Salzburg nicht geschehen. Mein Traum könnte wirklichkeitsferner nicht sein. Kapital ist immer und überall und zu allen Zeiten stärker als die Kunst.“

Nun also Joachim Gauck, der offizielle Festredner – auch er erinnert daran, dass die Realität uns rasch von unseren Ausflügen in die Kunst zurückzuholen vermag: „Wohl verschafft sie uns magische Augenblicke irdischer Glückseligkeit, aber gleich darauf warten sie wieder auf uns: unsere Alltagspflichten, Alltagsgebrechen und -nöte. Eben noch Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium – und jetzt die Steuererklärung. Oder unsere Regierungen – so mangelhaft! Oder unser Europa – so zerstritten! Oder unser Klima – so bedroht! Unsere Kultur – dem Untergang geweiht!“ So mancher Kunstfreund trage sich da mit Fluchtgedanken – da es aber kein Leben in der Kunst gibt, flüchte er in die Vision einer geheilten, von Bosheiten gereinigten Welt. Eine Sackgasse, wie die Geschichte lehre. „Als gebrannte Kinder werden wir Europäer künftig lieber das Schwarzbrot der Realpolitik essen, als zum Zuckerbrot der Ideologen zu greifen. Wir tun gut daran, weniger nach der vollkommenen Gesellschaft zu trachten, sondern stattdessen in mühseliger Arbeit das Bessere – oder wenn Sie so wollen: das weniger Schlechte – zu gestalten.“

Und die Kunst? Was kann da die Kunst? Joachim Gauck, der Bürgerrechtler aus der DDR, erinnert daran, welche Rolle sie in einer Gesellschaft spielte, in der den Menschen von Kindergarten an eingetrichtert wurde: „Sieh die Welt mit den Augen derer, die dich regieren, und es wird dir gut gehen.“ Schon darum kann er wohl den Pessimismus eines Jean Ziegler nicht teilen. Auch wenn er die Grenzen dessen, was Kunst leisten kann, sieht und deutlich zieht: „Wir wissen ja, weil wir, zumal in Europa, zu viel gesehen haben an Verlust, Übermut und todgebärender Stärke, wir wissen ja, dass weder die Kunst noch die Künstler unsere Welt wirklich verwandeln können. Schon der Religion haben wir es zugetraut, aber auch sie hat es nur begrenzt vermocht. Aber wir wissen auch, dass wir weder zum Tun des Bösen noch zum Leben des Nichtigen geboren sind. Auch wissen wir, dass wir hinreichend oft in unserem Leben eine Wahl haben – nicht immer nur zwischen Gut und Böse, oft aber zwischen Besser und Schlechter, selbst- oder fremdbestimmt. Und wir wissen, dass wir Hilfen brauchen, die Wahl zu treffen, die uns und anderen hilft, ein Mensch zu werden.“ Hier kann die Kunst eintreten. Mit einer Melodie, einem Wort, das uns wecke, mit einem Bildnis, „das uns einfach nur ,Ja‘ sagen lässt.“ Joachim Gauck: „Es ist nicht nur Traum und Illusion und barmende Hoffnung, dass wir aus Nichtigkeit und Tristesse wachgeküsst werden können zu Fülle, Freude und Verantwortung.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2011)

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