Ken (Ryan Gosling), Jorja Smith und Arlo Parks sind nur wenige Interpreten, die heuer Schönes gemacht haben.
Musik

Die besten Songs des Jahres 2023

23 Songs über das Verlieren und Verzeihen, das Ungerechte und das Unperfekte. Allesamt Neuerscheinungen, die es uns besonders angetan haben – vom Ebensee bis in die Staaten.

„Try Me“ - Jorja Smith

Eine Weile hatte man von Jorja Smith nichts Neues gehört. 2018 gelang ihr mit dem Debütalbum „Lost & Found“ ein kometenhafter Aufstieg, mit „falling or flying“ jetzt, knapp fünf Jahre darauf, eine ebenso imposante Rückkehr. Im Song „Try Me“ setzt sich die Sängerin mit ihrer eigenen Verletzlichkeit auseinander, konfrontiert offensichtlich jemanden, der sie niedergemacht hat. Staccato-artige Drums weichen später den Streichern, die eindringliche Stimme ist wie immer das Herzstück. Ein Song für die verletzlichen Starken. (evdin)

„Look At Us Now (Honeycomb)“ – Daisy Jones & The Six

Ein wenig komisch ist es natürlich, Fan einer fiktiven Band zu sein. Geschrieben wurden die Titel für Daisy Jones & The Six (für die gleichnamige Amazon-Prime-Serie) aber freilich eh von echten Menschen, wobei eine KI auch zum Einsatz hätte kommen können. Ist sie zum Glück nicht. Blake Mills – bekannt für seine Arbeit mit Bob Dylan, Perfume Genius und den Alabama Shakes – und Marcus Mumford (Mumford & Sons) haben unter anderem am Album „Aurora“ mitgewirkt, auch am erfolgreichsten aller Titel „Look At Us Now (Honeycomb)“. Die Harmonien sind mitreißend, der Gesang offenbarend. Anderthalb Jahre haben die Darsteller Riley Keough (Daisy Jones) und Sam Claflin (Billy Dunne) für letzteren trainiert. Mit chartträchtigem Erfolg. (evdin)

„Tough Love“ – Flyte

Fans schätzen das Londoner Duo Flyte, aus Will Taylor und Nicolas Hill, für ihr ausgefeiltes Songwriting. Das neue, dritte Album „Tough Love“ ist obendrein recht intim, nicht nur wegen der herzzerreißend ehrlichen Texte. Für die gleichnamige Leadsingle holte man sich unterstützend die Singer-Songwriterin Laura Marling dazu, deren klare Stimme sich an die wehmütigen Harmonien anschmiegt. Nach langem ruhigen Aufbau wird das Schlagzeug dominanter, hinzu kommen schräge Streicherarrangements – eine musikgewordene ungesunde Liebesbeziehung, mit abruptem Ende. (evdin)

„Lächel Doch Mal“ – Shirin David

Es tut gut, wenn sich nach Jahrzehnten der Frauenfeindlichkeit im Rap Künstlerinnen am Patriarchat abarbeiten. Besonders gekonnt tut das Shirin David. Ein ganzes Album ist ihrem durchaus beneidenswertem „Hard-Bitch-Style“ gewidmet, ihr Fett bekommen Männer vor allem im Song „Lächel Doch Mal“ ab. In einer fiktionalisierten Umkehr der Verhältnisse werden „Boys“ billig angemacht und objektifiziert: „Er soll sich nicht so anstell‘n, weil ich übergriffig touchy bin / Guck nicht so böse, mein Süßer, ich möchte dich lachen seh’n.“ Ja Thomas Gottschalk, auch so geht Feminismus. (evdin)

„Sweet Sound Of Heaven“ – Rolling Stones

Mit dem Album „Hackney Diamonds“ schafften die Rolling Stones eine triumphale Rückkehr. Das beste Stück darauf ist ein Gospel, den Mick Jagger gemeinsam mit Lady Gaga singt: Auf „Sweet Sounds Of Heaven“ beschwören sie die Vision des Lichts, das in die Finsternis hinunterleuchtet. Wie einst in „Shine A Light“, nur mit weniger Bitterkeit und mehr Hoffnung. Und der Prise ironischer Distanz, die Jagger immer bewahrt, die aber die Inbrunst nur steigert. Himmlisch. (tk)

„Nothing Is As Good As They Say It Is“ – Sparks

Seit 50 Jahren beschert uns dieses glitzernde amerikanische, aber britophile Duo bizarre Songszenarien, hier treiben sie ihr Kunsthandwerk auf die Spitze: In „Nothing Is As Good As They Say It Is“ hören wir einen 22 Stunden alten Menschen, der seinen Eltern freundlich, aber bestimmt erklärt, dass diese Welt doch nichts für ihn ist. Also fordert er die Rückkehr in den Mutterleib. Mit irrwitzigen Reimen und konsequenterweise im perfekten Retro-Style: also Glam-Rock. (tk)

„Back on 74“ – Jungle

Das britische Elektronik-Duo Jungle war schon vorher nicht ganz unbekannt – und dann hat TikTok es für sich entdeckt. Der Song „Back on 74” lief dort ein paar Wochen lang in Dauerschleife. Nicht nur, weil seine Disco-Beats, repetitiven Zeilen und samtige Vielstimmigkeit automatisch die Endorphinproduktion ankurbeln. Vor allem hatte es das Video in sich und animierte zur Nachahmung. In einer einzigen durchgehenden Aufnahme reißt ein diverser Cast an Tänzern und Tänzerinnen noch den letzten Tanzmuffel von seiner Sitzfläche. (sir)

„Paint the Town Red“ – Doja Cat

US-Rapperin Doja Cat pflegt einen recht hitzigen Umgangston mit ihren Fans, die zugegebenermaßen auch viel von ihrem Idol verlangen und an ihr Kritik üben (z.B. an ihrem Haarschnitt, an ihrer Partnerwahl etc). Ihre Single „Paint the Town Red” ist eine Antwort auf ihre Fans, sie rappt über Samples aus Dionne Warwicks 1964 erschienem Lied „Walk On By“. Der smoothe Sound, Warwicks Engelsstimmchen und Doja Cats rotziger Rap ergänzen sich fantastisch. Der Song eignet sich gut, wenn man sich gerade selbst gut zusprechen will, vorm Gehaltsverhandeln oder für den Hot Girl Walk. (sir)

„3 Sekunden“ – Céline und Paula Hartmann 

Die beiden deutschen Rapperinnen haben sich für den Song „3 Sekunden” zusammengetan, um auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. Im Text beschreiben sie Situationen, die leider zu vielen Frauen bekannt vorkommen dürften: „Alle drei Sekunden umdreh’n, nachts allein im Dunkeln” oder „Eine Hand an mei’m Arsch, aber alles nur Spaß. Mama hat uns gewarnt: ‚Das ist alles normal‘.” Célines schmollmündig-volle Stimme trägt durch den Song, Paula Hartmann setzt dann mit ihrer klarer, mädchenhaften Stimme ein, Melodie und Beat halten sich elegant zurück und geben dem Inhalt Raum. (sir)

„Glatteis“ – Nina Chuba

„Bei Nina Chuba ist alles Assoziation“, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ über die Texte der deutschen Hip-Hopperin. In „Glatteis“ ist alles Metapher: Mit 200 km/h rast sie auf der Autobahn „zu dir“, bei Glatteis noch dazu. Konsequenzen: egal, für den „einen allerletzten Ausrutscher“ setzt sie alles aufs Spiel. Musikalisch lebt der Song von Tempowechseln. Die Strophen mäandern, der Refrain presst, und „Drift“ reimt sich auf „Funke trifft“. Der hölzerne Klang der assymetrischen Beats: unwiderstehlich. (her)

„Impurities“ – Arlo Parks

Vollkommenheit und Perfektion: Das sind Worte, mit denen Liebste gern überhöht werden. Das größere Glück ist, in seiner Unvollkommenheit geliebt zu werden. „I radiate like a star, When you embrace all my impurities“, singt die Britin Arlo Parks federleicht: Sie leuchtet in ihrer Unreinheit. Und wie! Zum Hip-Hoppig-Drumbeatigen Groove (der Bass!) heben sich Herz und Laune. (her)

„Bei niemand anders“ – Wanda

Bands sind mehr als die Summe ihrer Mitglieder, um eine abgedroschene Redewendung zu bemühen. Bei Wanda waren es vier, ihre Live-Auftritte waren Hedonismus pur, Party, Alkohol, Tschick und Carpe diem. Vergangenes Jahr wurde die Wiener Band mit der Endlichkeit konfrontiert: Der langjährige Keyboarder Christian Hummer verstarb nach schwerer Krankheit. Das Gefüge: erschüttert. Die jugendliche Sorglosigkeit, die sie verkörperten: unglaubwürdig. In „Bei niemand anders“ geht es um den Verlust, auch jenen der Naivität. „Ich will, dass du ewig lebst, Und bis dahin sollst du glücklich sein“, heißt es. Zum ersten Mal seit langem wirken Wanda hier wieder ganz bei sich. Mag das Verhältnis der Band zu Hummer nicht immer harmonisch gewesen sein, „Bei niemand anders“ ist eine ganz große Liebeserklärung. (her)

„Go Dig My Grave“ Lankum

Der vielleicht erschütterndste Song des Jahres stammt von der Dubliner Folkgruppe Lankum: In „Go Dig My Grave“ wünscht sich eine Frau, dass ihr jemand ein Grab ausheben soll, „wide and deep“. Dieses irische Volksstück über nicht erwiderte Liebe, die mit Suizid endet, machen Lankum zum neunminütigen, brutal-intensiven Klagelied. Es beginnt als einsames A capella, in dem Sängerin Radie Peat Wörter und Silben dehnt, um den Schmerz, der Trauer Raum zu geben. Und steigert sich zunehmend zum infernalen Dröhnen, getrieben von einem archaischen Puls, mit nervenaufreibenden Streichern und tiefem Dudelsack-Brummen. (holf)

„Only Have Eyes 42“ Janelle Monáe

Nach Konzeptalben in der Tradition des Afrofuturismus rief Janelle Monáe heuer mit ihrem vierten Album ein Zeitalter der Lust aus: „The Age Of Pleasure“ tauscht dystopische Rassismuskritik gegen frei fließende Oden an (queere) Liebe, Freude, Selbstbestimmung. Damit gelang der US-Songwriterin und Sängerin ein formidabler Sommer-Soundtrack zwischen R‘n‘B, Jazz, Afrobeat(s) und karibischen Klängen. Allen voran mit „Only Have Eyes 42“, einer Reggae-inspirierten Polyamorie-Preisung, die mit prägnanten Piano-Chords und extra-entspanntem Groove besticht. (holf)

„It must change“ Anohni

Es muss sich ändern, es braucht einen Wandel: Wenn Anohni im gleichnamigen Song immer wieder „It must change“ singt, klingt es wie ein letzter Appell, dem nur mehr ein Funke Hoffnung innewohnt. Geht es um eine Liebesbeziehung? Die Welt im Krieg? Die Klimakrise? Auch wenn Bilder von Waldbränden im Video unterstreichen, dass die seit langem in New York ansässige Britin einmal mehr vorm ökologischen Kollaps warnt: Dieser wunderbar beseelte, auf einem gedämpften Groove schwebende Song berührt universell. (holf)

„One Star“ – Jungstötter

Düster grollende Beats, ein weinendes Flügelhorn und die Stimme von Evelyn Plaschg umrahmen den intensiven Gesangsvortrag Jungstötters. Sein dunkler Bariton wird in manchen Passagen zu einem gequälten Tenor. Die seelische Verwandlung, die im Protagonisten vorgeht, ist keine freiwillige. Das versteht man schnell. Hier ist jemand, der sich in Anbetracht der tristen Umstände neu orientiert und überraschend ans Licht gerät. „Everything in me is new and like light air“ jubiliert es aus dem Schacht des Im-Kreis-Denkens. (sam)

„Petite Musique Terrienne“ – Cécile McLorin Salvant     

Ein herrlich perlendes Klavier und eine glockenhelle Stimme, die da einen schlimmen Befund ausstellt. Die famose Jazzsängerin Cécile McLorin Salvant singt hier eine vergessene Melodie des verstorbenen französischen Komponisten Michel Berger. „Y‘a plus d‘avenir sur la terre” – „es gibt keine Zukunft mehr auf der Erde“. Die gebetsähnliche Endzeithymne stammt aus 1978 und ist eingepasst in ein Album, auf dem die Amerikanerin strikt Französisch singt. (sam)

„Did You Know That There’s A Tunnel under Ocean Blvd“ – Lana Del Rey

Streicher, ein Klavier sowie ein unheimlicher Wind locken ins Titellied des neunten Albums von Lana Del Rey. Ihre Stimme ist immer noch von größer Faszination, ihre Poesie ambivalent. Mit zartem Vibrato lockt sie verlässlich an jenen Punkt, wo die Spannung zwischen schriller Expressivität und resignativem Verstummen am größten ist. Unter der leicht gelackten Oberfläche lassen sich rasch Rätsel und verborgenen Botschaften entdecken. Alles wirkt so mysteriös, als wäre die Songprotagonistin in einem David-Lynch-Film gefangen. (sam)

„Vampire“ – Olivia Rodrigo

Das Klavier-Intro verspricht schon einmal wunderbar reduzierte Schauerromantik. Kein Zufall: Die Akkorde sind dieselben, die schon Radiohead in ihrem Song „Creep“ für die gewisse, nun ja, creepy Stimmung nutzten. Was Olivia Rodrigo, die sich mit ihrem Album „Guts“ heuer in eine höhere Star-Liga gehievt hat, in ihrem Song „Vampire“ dann aber daraus macht, ist eigenständiger, eingängiger und sehr mitsingbarer Pop: Es geht um einen Ex, der sie manipulierte, ausnutzte, sie „ausbluten“ ließ wie ein Vampir. „I should‘ve known it was strange, you only come out at night”, singt die 20-Jährige, während sich die Intensität des Songs immerzu steigert: Perfekte Pop-Dramatik. (kanu)

„I’m Just Ken“ – Ryan Gosling

Der arme, arme Ken. Jahrzehntelang ein Schattendasein als wenig beachtetes Barbie-Anhängsel geführt, kam er 2023 nun auch noch drauf, dass er eigentlich all die Zeit in patriarchaler Vormachtstellung hätte leben können, hätte er nur einen Blick in die „echte Welt“ geworfen: So stellte es sich jedenfalls im Kino-Blockbuster „Barbie“ dar, in dem Ryan Gosling in der Rolle des Ken lustvoll verletzte Männlichkeit auf die Spitze treibt. Der Song dazu, die Powerballade „I’m Just Ken“, ging zurecht viral: Mit einem Übermaß an Pathos lamentiert Ken darin, immer nur die Nummer zwei zu sein. An den Instrumenten saßen übrigens recht prominente „Nummer zweien“ von bekannten Bands: Slash von Guns n’ Roses, Wolfgang Van Halen (der Sohn von Eddie), und Josh Freese von den Foo Fighters. (kanu)

„Ceilings“ – Lizzy McAlpine

„Lovely to be rained on with you”: Ja, die amerikanische Singer-Songwriterin Lizzy McAlpine findet schöne Worte für verliebte Tagträume. Die Folk-Pop-Ballade „Ceilings“, heuer als Single erschienen, ist voll davon: Mit wunderbar sanfter Stimme erweckt McAlpine die bittersüße Erinnerung an eine Liebe, die aber einen Haken hat („… and it feels like the start of a movie I’ve seen before“). Die zärtlich tänzelnde Melodie, angehoben von subtilen Geigen, geht runter wie eine Tasse Tee und bleibt – auch dank Plot-Twist im letzten Refrain – als wohliger Nachklang zurück. (kanu)

„Wie es ist“ – Bipolar Feminin

Rock ist tot, heißt es immer wieder. Fraglos hat die Gitarrenmusik im globalen Blockbuster-Popgeschäft derzeit nur wenig zu melden. Aber an den Rändern ist sie so lebendig wie eh und je – vielleicht sogar wie noch nie. Auch in Österreich. Ein schönes Beispiel bot heuer „Ein fragiles System“, das Langspielplattendebüt von „Bipolar Feminin“, einem Schlagzeug-Bass-Doppelgitarre-Gesang-Gespann aus dem oberösterreichischen Ebensee. Es ist beseelt von altmodisch punkiger Wut und neumodisch tief gefühlter Melancholie. Anspieltipp: Der Opener „Wie es ist“. (and)

„Nobody“ – Avenged Sevenfold

Unter den vielen breitbeinigen US-Macho-Rock-Acts, die gefühlt jährlich beim heimischen Nova Rock konzertieren, sind Avenged Sevenfold sicher nicht die subtilsten. Dafür wagen sie ab und an einen Blick über den Tellerrand ihres Genres. Ihr heuriges Opus „Life Is But a Dream. . .“ wildert bisweilen sogar in Pop-Gefilden. Und wurde im Internet für seine ästhetische Prätention mit viel Häme bedacht. Die erste Singleauskopplung „Nobody“ ist trotzdem hörenswert: Ein opulent dröhnender Trip voller Wummerbässe und Soloexzesse, der dennoch erstaunlich gut ins Ohr geht. (and)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.