Der Bundeskanzler geriet am Mittwoch Abend in seinem ersten großen Fernsehinterview seit Amtsantritt in eine schwierige Situation: Eine persönliche Konfrontation mit dem Schicksal eines abgewiesenen Flüchtlings.
Welche Art von Kanzler wünschen wir uns? Einen, der für einen gut integrierten, sympathischen Flüchtling mit Abschiebebescheid nach einer Lösung sucht? Oder einen, der das System dahinter sieht? Einen, der den einzelnen Menschen ins Zentrum rückt? Oder einen, der darauf verweist, dass Asyl-Entscheidungen nicht von Sympathie und Integrationsgrad, sondern von der Gefährdung eines Menschen in seiner Heimat abhängen sollen?
Am Donnerstag Abend konnte man Bundeskanzler Sebastian Kurz auf Puls4 in einer sensiblen und diffizilen Situation beobachten: Im TV-Format „Arena“ müssen sich Politiker auch den Fragen von Bürgern stellen. Kurz stand einem sympathischen Wirt gegenüber (dem Altwirt des "Weißen Rössl vom Wolfgangsee", ein ehemaliger FPÖ- und LIF-Politiker) und erklärte ihm, warum sein ebenso sympathischer Lehrling nicht in Österreich bleiben darf.
Sein Schützling habe Deutsch gelernt, sich bemüht, arbeite und zahle Steuern, sagte der Wirt. „Und der wird mir mit 94 Seiten Papier abgeschoben. Ich bin empört, Herr Bundeskanzler!“ Der Lehrling, der in seiner Arbeitsuniform neben dem Wirt stand, bemühte sich sichtlich um Fassung, als Kanzler Kurz erklärte, er sehe das Dilemma, aber Asyl sei „nicht geschaffen für die, die am fleißigsten sind, sich am besten integrieren, sondern Asyl ist ein Recht auf Schutz.“ Auch das „Herr Bundeskanzler, hier steht ein Mensch“ machte keinen Unterschied. „Sie sind in Wahrheit nicht verfolgt“, sagte er zu dem jungen Afghanen. „Anders als Sie das beim Asylverfahren angegeben haben“.
In der Vergangenheit gingen Politiker schon durchaus weniger souverän mit dem Schicksal Einzelner um. Man erinnert sich an Maria Fekter als Innenministerin, die sich (Stichwort „Rehäuglein“) nicht gerade zur Sympathieträgerin machte, als sie vor neun Jahren ähnliche Argumente einsetzte wie Kurz. Und Angela Merkel wirkte mehr als hilflos, als sie 2015 im Fernsehen eine jungen Palästinenserin tröstete und streichelte, die wegen ihrer Worte zu weinen begann. Merkel erntete viel Kritik, ihr wurde Gefühlskälte vorgeworfen. Wenig später wurde aus den Worten „Das können wir nicht schaffen“ Merkels berühmter Spruch „Wir schaffen das“.
Nach hundert Tagen das erste große TV-Interview
Für Sebastian Kurz war es das erste große Fernsehinterview seit seinem Amtsantritt, er bewältigte es jedenfalls gut. Corinna Milborn formulierte ihre Fragen respektvoll, aber schnell und hart. Bei seinem großen Wahlkampfthema-Paket Zuwanderung, Integration und Asyl blieb Kurz jedenfalls auch hundert Tage nach der Regierungsbildung – das war der offizielle Anlass für das Gespräch – bei den Ansichten, die er zuvor vertrat.
Der Kanzler nützte die Chance, gegen „pauschale Verurteilungen“ zu argumentieren. Das gelte für Afghanen und Tschetschenen ebenso wie FPÖ-Politiker oder Burschenschaftler. Wo Milborn wohl hätte nachfragen können: Die „dunklen Seiten“ der FPÖ setzte Kurz mit den „dunklen Seiten“ der SPÖ oder ÖVP gleich. „Wenn es antisemitische Vorfälle gibt, werden sie sich darauf verlassen können, dass ich dagegen ankämpfe“, sagte er einer Holocaust-Überlebenden, die angesichts der Wortwahl und des Stils der Freiheitlichen fürchtet, der „Ungeist der Intoleranz“ könnte wieder erstarken. Zufrieden war die Dame mit Kurz‘ Antwort zu seiner moralischen Verantwortung am Ende „nicht ganz“.
Das ebenfalls nicht einfache Thema Arbeitslosigkeit (vor allem älterer Menschen) nutzte Kurz zum Zuhören wie zum Antworten. Und auch die anderen Frageblöcke der langen Sendung (Kriminalität, Russland, Mindestsicherung, Rauchen) bewältigte der Kanzler gut – und weitgehend ohne Patzer. Dass seine Beliebtheitswerte durch TV-Auftritte wie diesen noch steigen, kann man nicht ausschließen. Zumindest beim Koalitionspartner FPÖ, für den es immer wieder eine überraschende Erfahrung sein dürfte, von anderen verteidigt zu werden.