Im Streit um die Einhaltung des Brexit-Abkommens verzichtet die EU-Kommission vorerst auf Rechtsschritte gegen Großbritannien und wartet ab.
Brüssel/London. Nicht reizen, nicht füttern, sich ruhig verhalten: An dieses Verhaltensmuster für unerwartete Begegnungen mit gefährlichen Wildtieren scheint sich auch die EU zu halten – nur dass es in diesem Fall um keine Raubtiere geht, sondern um Großbritanniens Premierminister, Boris Johnson, und seinen Europabeauftragten, David Frost. Im seit Jahresbeginn schwelenden Konflikt um die Nichteinhaltung der Post-Brexit-Sonderbestimmungen für Nordirland, auf die sich Brüssel und London Ende 2019 geeinigt hatten, legt die EU-Kommission ihre Rechtsschritte gegen Großbritannien vorerst auf Eis. Man wolle derzeit alles vermeiden, was von Frost als Zündstoff missbraucht werden könnte, erklärte ein EU-Diplomat der „Financial Times“ hinter vorgehaltener Hand.
Offiziell klingt der Sachverhalt etwas anders: Man habe der britischen Bitte auf einen Stopp des Verfahrens zugestimmt und werde nun gemeinsam mit dem Europaparlament die aus London vorgelegten Vorschläge zur Beilegung des Konflikts prüfen, erklärte ein Sprecher der Brüsseler Behörde. Das Verfahren der EU läuft seit März. Brüssel wirft den Briten vor, dass sie nicht, wie vereinbart, die Lieferungen tierischer und pflanzlicher Produkte nach Nordirland kontrollieren – London argumentiert mit negativen Folgen für den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs. Rein rechtlich stehen Johnson und Frost auf verlorenem Posten. Im Zuge der Brexit-Verhandlungen haben Großbritannien und die EU eine Vereinbarung getroffen, die genau diese Konsequenzen nach sich zieht. Um den Brexit über die Bühne zu bringen, stimmte Johnson einem Sonderstatus für Nordirland zu. Die Provinz bleibt Teil des EU-Binnenmarkts, damit die Grenze zur Republik Irland offen bleiben kann, wie es das Karfreitagsabkommen von 1998 vorsieht – der Preis dafür sind Warenkontrollen zum Rest des Vereinigten Königreichs.