Die Ukraine fordert im Rahmen der OSZE-Regeln einen Informationsaustausch über die Aktivitäten der Streitkräfte und beharrt auf einen Nato-Beitritt. Der britische Premierminister Johnson sieht noch ein „Zeitfenster der Diplomatie“.
Die ukrainische Regierung hat von Russland mit Blick auf eine Vereinbarung in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Transparenz über dessen Truppenbewegungen gefordert. Moskau müsse "seinen Verpflichtungen zur militärischen Transparenz nachkommen, um Spannungen abzubauen", so Außenminister Dmytro Kuleba. Deshalb berufe die Ukraine "innerhalb von 48 Stunden ein Treffen mit Russland und allen Mitgliedstaaten ein". Die Ukraine strebt weiterhin einen Nato-Beitritt an.
Die Regierung in Moskau habe eine Anfrage Kiews unter Berufung auf das Wiener Dokument der OSZE ignoriert, erklärte Kuleba am Sonntagabend weiter. Der Text soll den Informationsaustausch über die Aktivitäten der Streitkräfte der 57 Mitgliedsländer der Organisation fördern. "Jetzt gehen wir zum nächsten Schritt über", kündigte Kuleba an. Es gehe darum, "die Verstärkung und Verlegung russischer Truppen entlang unserer Grenze und auf der besetzten Krim zu besprechen".
Moskau hat nach westlichen Angaben in den vergangenen Monaten mehr als 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Die US-Regierung hat wiederholt gewarnt, Russland könnte das Nachbarland "jederzeit" angreifen. Russland bestreitet jegliche Angriffspläne und führt an, sich von der Nato bedroht zu fühlen.
Ukraine will Nato und EU beitreten
Die ukrainische Regierung unterstrich ihre Absichten, der Nato und der EU beizutreten. Das habe für das Land absolute Priorität, sagte ein Sprecher von Präsident Selenskij am Montag. Er reagierte damit auf Äußerungen des ukrainischen Botschafters in Großbritannien, Vadim Prystajko, der laut einem Bericht der BBC signalisierte, die Ukraine könnte auf die von ihr angestrebte Nato-Mitgliedschaft verzichten, um einen Krieg mit Russland zu vermeiden. Wenig später stellte der Diplomat allerdings klar, es habe sich um ein Missverständnis gehandelt. Die Ukraine werde den von ihr anvisierten Nato-Beitritt nicht überdenken.
"Dieser (Beitritts-)Kurs spiegelt sich nicht nur in der Verfassung wider, sondern hat auch die volle Zustimmung der Behörden und der Gesellschaft", sagte Selenskyjs Sprecher Sergii Nykyforow der Nachrichtenagentur Reuters. Moskau lehnt eine Osterweiterung der Nato entschieden ab und fordert vom Westen Sicherheitsgarantien, etwa dass die Ukraine dem transatlantischen Militärbündnis nicht beitreten wird. Die Nato lehnt dies ab.
Die Beziehungen zwischen den USA und Russland liegen nach Darstellung Moskaus am Boden. Es gebe bestimmte Kommunikationskanäle, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur RIA zufolge am Montag. Positiv sei, dass Putin und Biden in Kontakt gewesen seien. Die beiden hatten am Samstag inmitten der Ukraine-Russland-Krise telefoniert. "Das ist ein Pluspunkt." Denn vor einigen Jahren habe es überhaupt keinen Kontakt gegeben. Aber auf anderen Gebieten sei man an "einem sehr, sehr tiefen Punkt".
Deutschland verstärkt Truppen in Litauen
Die deutschen Streitkräfte haben am Montag mit einer Verstärkung des Nato-Gefechtsverbandes in Litauen begonnen. 70 Bundeswehrsoldaten landeten auf dem Militärflughafen Kaunas; die ersten Lastwagen mit Material für zusätzliche Soldaten machten sich im niedersächsischen Munster auf den Weg. Dort sollten am Laufe des Tages auch sechs Panzerhaubitzen auf Schwerlasttransportern Richtung Baltikum abfahren. Deutschland führt in Litauen den Einsatz einer Nato-Einheit.
Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hatte vor dem Hintergrund der massiven Spannungen zwischen Russland und der Ukraine eine Verstärkung des Gefechtsverbandes angekündigt. Deutschland entsendet dazu rund 350 zusätzliche Soldaten mit rund 100 Fahrzeugen. Den Schwerpunkt bildet die Artillerie des Heeres mit der Panzerhaubitze 2000. Darüber hinaus bestehen die Verstärkungskräfte unter anderem aus Aufklärungs-, ABC-Abwehr-, Feldjäger- und Sanitätskräften, wie das Verteidigungsministerium mitteilte.
G7 droht Russland mit harten Sanktionen
Die sieben führenden Industrienationen (G7) haben Russland im Falle eines Angriffs auf die Ukraine unterdessen mit umfangreichen Sanktionen gedroht. In einer am Montag in Berlin veröffentlichten Erklärung der G7-Finanzminister hieß es, es würde dann eine schnelle, abgestimmte und kraftvolle Antwort geben. Es würde sowohl wirtschaftliche als auch finanzielle Sanktionen gegen Russland geben, die sofortige und massive Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes hätten.
Die G7-Gruppe werde den Ukraine-Konflikt weiter genau beobachten. Priorität hätten sämtliche Maßnahmen, welche die Lage entschärfen könnten. Der Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze sei ein Grund zu großer Sorge. Ziel der G7 sei es, die Unabhängigkeit der Ukraine zu gewähren sowie die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität des Landes zu erhalten. Seit 2014 seien bereits internationale Hilfen von zusammen mehr als 48 Milliarden Dollar zugunsten der Ukraine zur Verfügung gestellt worden.
Deutschland hat in diesem Jahr den Vorsitz der G7 inne. Neben der Bundesrepublik gehören Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA der G7 an. 1998 war das Format durch die Teilnahme Russlands auf die G8 erweitert worden. Wegen der Annexion der Krim von der Ukraine wurde Russland aber 2014 wieder ausgeschlossen.
Johnson ortet „Zeitfenster für Deeskalation"
Der britische Premierminister Boris Johnson sieht noch eine Chance für eine diplomatische Lösung im Ukraine-Konflikt. "Es gibt noch ein Zeitfenster für Deeskalation und Diplomatie", erklärte ein Sprecher des Regierungschefs am Sonntagabend in London. Johnson werde "weiterhin unermüdlich an der Seite unserer Verbündeten arbeiten, um Russland dazu zu bringen, sich vom Abgrund zu entfernen".
Er wolle daher in den kommenden Tagen mit den Staats- und Regierungschefs der nordischen und baltischen Länder sprechen. Zuvor hatte Johnsons Verteidigungsminister Ben Wallace die diplomatischen Bemühungen des Westens im aktuellen Konflikt mit Russland mit der Appeasement-Politik gegenüber Nazi-Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg verglichen. Es sei zwar nicht sicher, dass Russland in die Ukraine einmarschiere, sagte Wallace der Zeitung "Sunday Times". Im Westen liege aber "ein Hauch von München" in der Luft.
Symbol einer gescheiterten Appeasement-Politik
Mit der Formulierung nahm Wallace Bezug auf das Münchener Abkommen von 1938, mit dem die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete in der Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland festgelegt wurde. Insbesondere Großbritannien hoffte damals, mit Zugeständnissen an Adolf Hitler einen Krieg in Europa abwenden zu können. Heute wird das Münchener Abkommen als Symbol einer gescheiterten Appeasement-Politik gesehen.
Auch Johnsons Sprecher schloss eine Eskalation nicht aus: "Alle uns vorliegenden Informationen deuten darauf hin, dass Russland jederzeit eine Invasion der Ukraine planen könnte." Dies hätte verheerende Folgen für die Ukraine und Russland.
Der massive russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze schürt im Westen die Furcht vor einem Angriff Russlands auf das Nachbarland. Die US-Regierung warnte zuletzt vor einem russischen Einmarsch in die Ukraine noch vor dem 20. Februar. Russland bestreitet jegliche Angriffspläne und gibt seinerseits an, sich von der Nato bedroht zu fühlen.>>> Die Entdeckung der Ukraine: Eine Warnung [premium]
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(APA/dpa)